Löws Elf:Tiki-Taka auf deutsch

Scotland v Germany - UEFA Euro 2016 Qualifying Group D

Gewinner und Verlierer der Länderspiel-Woche: Ilkay Gündogan (rechts) und Mario Götze überzeugten, während Mesut Özil (links) zweimal blass blieb.

(Foto: Russell Cheyne/Reuters)

Ilkay Gündogan und Jonas Hector vervollständigen den Luxus im Kader - nur eine Position bereitet noch Sorgen.

Von Philipp Selldorf, Glasgow

Auf der britischen Insel gehört es zu den Grundregeln der Höflichkeit, die Mitmenschen für Beschwerlichkeiten um Verzeihung zu bitten, die man ihnen eventuell verursacht haben könnte. Erweckt man zum Beispiel entfernt den Anschein, hinderlich im Weg zu stehen, ist dringend eine Entschuldigung fällig, erst recht, wenn der sogar noch mehr bestürzende Fall eines unfreiwilligen körperlichen Kontakts eintritt, etwa in der überfüllten S-Bahn. Auch daher fand es nicht nur James Morrison höchst irritierend, dass Emre Can geradewegs und mit nicht nachlassendem Tempo auf ihn zustürmte, so dass es gleich zu einem fürchterlichen Zusammenprall kommen musste.

Was Can mit seiner Ein-Mann-Stampede bezweckte, konnten der schottische Nationalspieler Morrison und die 50 000 Augenzeugen im Hampden-Park nur erahnen. Der Ball war für den deutschen Abwehrspieler eigentlich längst verloren, nachdem er ihn beim letzten Kontakt viele Meter hatte davon springen lassen, der Ball war jetzt bei Morrison. Bloß Can wollte sich damit nicht abfinden. Er rannte auf den Schotten zu, der vor lauter Schreck eilig den Ball loszuwerden versuchte, ihn aber in der Hektik nicht richtig traf, sondern stattdessen die Beine des inzwischen bei ihm angekommenen Emre Can. Die Folge: gelbe Karte für Morrison, Freistoß für Deutschland, Ballgewinn für Can.

Es war abzusehen, dass Neuling Emre Can Anpassungsprobleme bekommen würde

Diese Szene aus der zweiten Halbzeit nötigte den Bundestrainer, vorübergehend seinen Sitzplatz aufzugeben, er wirkte besorgt. Er schien sich aber auch zu fragen, was er da gerade gesehen hatte: War das eine gute oder eine schlechte Aktion von Emre Can? Nicht zum ersten Mal hatte Joachim Löw Anlass, darüber nachzudenken. Auch in seinem zweiten Länderspiel-Einsatz hinterließ der 21-jährige Can als rechter Verteidiger einen zwiespältigen Eindruck, an diesem Abend sogar noch etwas mehr als am Freitag gegen Polen. Wucht und Dynamik hat er nachgewiesen, Ambition und Mentalität ebenfalls, aber sonst hat doch vieles gefehlt - nicht zuletzt die technische Präzision am Ball, die ihm todesmutige Aktionen wie beim Angriff auf den armen Mister Morrison ersparen könnte. "Man kann keine Wunderdinge erwarten", sagte Löw später über seinen jüngsten Probanden. Das klang zunächst mal nicht gut.

Es war andererseits abzusehen, dass Can als Neuling in ungewohnter Rolle Anpassungsprobleme bekommen würde, das hob auch der Bundestrainer hervor, als er sein Experiment verteidigte. Der 21-jährige Profi des FC Liverpool wird wiederkommen dürfen, jedoch meint Löw, dass es mancher Nachhilfestunde bedarf. "Wir müssen ihn begleiten", erklärte er rücksichtsvoll. Die Vakanz auf der rechten Abwehrseite ist nach den beiden Experimenten mit Can sozusagen aufs Neue eröffnet, die Zahl der Kandidaten aber nicht gestiegen. Sebastian Rudy und Antonio Rüdiger, die vormaligen Testpersonen, würden sich dem Auftrag nicht verweigern, im Vereinsalltag aber sind sie nicht in der Lage, die Rolle einzustudieren: Rudy saß zuletzt auf der Ersatzbank, Rüdiger ist nach Rom verzogen und nach Überzeugung von Experten, Freunden, Verwandten und Bekannten kein Außen-, sondern Innenverteidiger. Bleiben noch Dortmunds Matthias Ginter oder der seriöse Schalke Nothelfer Benedikt Höwedes, zurzeit im Krankenstand.

"Ich möchte den Job des Bundestrainers nicht machen", sagt Hummels mitleidvoll

Aber Löw hat nach diesem erfreulichen Doppelspieltag keinen Grund, sich wegen eines einzelnen unbesetzten Postens Sorgen zu machen. Er darf froh sein, dass Jonas Hector als Linksverteidiger zunehmend gekonnt eine Position bedient, die weltweit als Problemposition gilt. Und er darf glücklich sein, dass er jenen Ilkay Gündogan wieder im Team hat, auf den er schon vor zwei Jahren bewundernde Blicke geworfen hatte. Dank der Supertechniker Gündogan, Özil, Kroos, Schweinsteiger und Götze hat die DFB-Elf in Glasgow ein deutsches Tiki-Taka vorgeführt; aus dem Versuch der Schotten, sich einzumauern, haben die Deutschen mit ihrer zärtlichen Ballbehandlung und ihrem feinsinnigen Pass-Spiel eine Belagerung gemacht. "Jemand hat mir gesagt, dass wir sie zu wenig angegriffen hätten. Aber dann sollte mal einer bei den Brasilianern nachfragen, wie sie das gemacht haben", rief Schottlands Coach Gordon Strachan das brasilianische 1:7 bei der WM in Erinnerung und schickte effektvoll hinterher: "Jesus!"

Gündogan hat die WM im Fernsehen verfolgen müssen, weil er wegen seines Rückenleidens mehr als ein Jahr nicht Fußball spielen konnte, "diese Zeit war für Illi der reine Horror", erzählte Vereinskollege Mats Hummels. Nun ist abzusehen, dass Gündogan bei den nächsten Turnieren eine führende Rolle im deutschen Team spielen könnte, und dass Löw sich dann auch vor die Gewissensfrage gestellt sieht, wie er zum Beispiel mit dem Kapitän Schweinsteiger und mit Sami Khedira und weiteren verdienten Spielern verfahren soll. "Ich möchte den Job des Bundestrainers nicht machen", sagte Hummels mitleidvoll.

Gündogan war die überragende Erscheinung der beiden Länderspiele, dieser Auffassung hat auch der Bundestrainer nicht widersprochen. "Man hat gesehen, was für einen Wert er für die Mannschaft hat", lobte Löw - und dies keineswegs nur aus Höflichkeit.

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