Löw im Interview:"Der Trainer weiß es besser als die Spieler"

Joachim Löw über Mario Gomez' Rolle in München, die Chancen von Torsten Frings auf ein Comeback und die Vorfreude auf das Spiel gegen Russland.

P. Selldorf

SZ: Herr Löw, noch eine Woche bis zum Spiel gegen Russland. Wie gut schlafen Sie derzeit, denken Sie schon an Moskau vor dem Einschlafen?

Joachim Löw: Schlafen ist kein Problem. Die Anspannung ist noch weit weg. Aber seit zwei Wochen spüre ich, dass die Konzentration enorm steigt.

SZ: Im Grunde steht Ihnen in Moskau das dritte Endspiel Ihrer Bundestrainer-Zeit bevor: Nach dem Duell mit Österreich um den Einzug ins Achtelfinale der EM und dem Finale gegen Spanien ...

Löw: ... beim Spiel gegen Österreich habe ich völlig entspannt auf der Bank gesessen, das war für mich kein Endspiel. Beim Halbfinale gegen die Türkei war meine Anspannung viel höher, weil ich das Gefühl hatte, dass wir nach dem Top-Spiel gegen Portugal nicht mehr so konzentriert sein würden. Was dann auch der Fall war.

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SZ: Gemeint ist die zugespitzte Ausgangslage. Ihre Mannschaft hat eine effektive Qualifikation gespielt, aber eine Niederlage in Russland bedeutet wohl, dass sie in den Play-offs nachsitzen muss - die Gefahr des Scheiterns ist zwangsläufig inbegriffen. Denken Sie darüber nach?

Löw: Nein, meine Konzentration ist zu 100 Prozent bei den Spielen gegen Russland und Finnland. Ich habe jetzt zum Beispiel erfahren, dass es in den Play-offs eine Setzliste geben wird, aber ich finde keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Wir haben ja nicht nur ein Finale vor uns, sondern zwei Endspiele: Auch die Partie gegen Finnland hat entscheidenden Charakter. Es sei denn, wir gewinnen in Moskau.

SZ: Vielleicht wären die Play-offs sogar hilfreich? Der damalige Teamchef Rudi Völler hat die Spiele gegen die Ukraine 2001 als moralischen Gewinn für sein Team erlebt.

Löw: Das hat er mir auch schon mal erzählt. Klar: So eine Ausgangslage ist äußerst schwierig, der Stressfaktor ist riesig, und da schweißt so ein Erfolgserlebnis zusätzlich zusammen. Das kann ich mir vorstellen. Aber ich meine das ernst: Ich überlege mir derzeit wirklich nicht, was für Schritte notwendig wären, wenn wir in die Play-offs gehen müssten.

SZ: Noch mal zurück zum Spiel gegen Österreich bei der EM. Damals standen Sie in der öffentlichen Wahrnehmung vor der Frage Sein oder Nicht-Sein. Dann hat DFB-Chef Theo Zwanziger erklärt: "Egal was passiert, Löw bleibt Bundestrainer." Würden Sie sich so eine Aussage noch einmal wünschen, vielleicht schon jetzt?

Löw: Als Theo Zwanziger - und auch Generalsekretär Wolfgang Niersbach - mir das damals gesagt haben, war ich überrascht. Ich habe geantwortet: "Ihr müsst mir das nicht sagen, ich beschäftige mich mit dem Thema nicht." Ich fand gut, dass sie es getan haben, aber ich musste das nicht hören. In meinen Gedanken gibt es jetzt nur die Spiele gegen Russland und Finnland. Wir überlegen uns täglich, was wir tun müssen. Wie können wir das angehen? Haben wir was vergessen? Damit haben wir schon nach dem Spiel gegen Aserbaidschan begonnen, es ist halt eine Ausnahmesituation.

SZ: Was wird passieren in Moskau? Werden die Russen es machen wie Ihre Mannschaft beim Hinspiel in Dortmund und gleich drauflosstürmen?

Löw: Alle Anzeichen deuten darauf hin, die Russen wissen: Wir spielen zu Hause und müssen das Spiel gewinnen. Also werden sie versuchen, den Ton anzugeben und uns zu überraschen auf dem für uns ungewohnten Kunstrasen. Und wir werden versuchen, wie beim Hinspiel eine Kombination aus Angriff und Defensive zu finden. Nur auf Unentschieden zu spielen, das liegt uns nicht, und das ist auch nicht mein Ansinnen: Ich möchte das Spiel in Russland gewinnen!

"Der Kunstrasen darf kein Alibi sein"

SZ: Ist es fair, dass die Russen als einziges Team ihre Heimspiele auf Kunstrasen austragen dürfen? Das ist ja ein ähnlicher Sonderfall wie die Hochgebirgsspiele, die Bolivien seinen Gegnern in Südamerika abverlangt.

Löw: Das ist inzwischen ein unwichtiger Aspekt. Wir kennen die Situation, und es gibt keine Möglichkeit, den Wettbewerbsvorteil rückgängig zu machen. Und diese Situation bedeutet ja nicht, dass wir das Spiel nicht gewinnen können. Wir müssen uns eben in der kurzen Zeit darauf einstellen, bei der Vorbereitung in Mainz finden wir praktisch identische Gegebenheiten zu den Verhältnissen in Moskau. Der Kunstrasen darf kein Alibi sein.

SZ: Kann der Kunstrasen für technisch starke Spieler sogar ein kleiner Vorteil sein?

Löw: Ich kann keinen Vorteil zu einem guten, ebenen, grünen Rasen erkennen. Dieses Spiel in Moskau wird anders werden, es erfordert eine Umstellung, besonders dann, wenn der Kunstrasen feucht ist und der Ball dadurch schneller wird. Dann muss man ihn in den Fuß statt in die Räume spielen.

SZ: Das betrifft besonders die Spieleröffnung und damit einen Spieler wie Philipp Lahm, was zu der Frage führt: Wo wird er diesmal landen, auf der linken oder rechten Abwehrseite? Der Arme ist ja schon ganz verwirrt.

Löw: Er kann auf beiden Seiten gut spielen, aber auf links ist Philipp Lahm unberechenbarer für den Gegner.

SZ: Er selbst meint, dass er defensiv stärker ist, wenn er rechts spielt.

Löw: Stimmt. Daran sieht man, dass er sich professionell mit seiner Position auseinandersetzt. Links hat er in der Offensive mehr Möglichkeiten, am Gegner vorbeizugehen, und rechts tut er sich defensiv etwas leichter, weil er den Gegner besser nach außen drängen kann. Wir müssen das alles abwägen, denn die anderen Außenverteidiger wie Marcel Schäfer oder Andi Beck sind relativ unerfahren, sie haben noch nicht seine internationale Klasse.

SZ: Am Ende bestimmt Lahms Position, wie die Abwehrreihe gebildet wird. Gilt das auch für den zweiten Innenverteidiger neben Per Mertesacker? Da haben Sie die Wahl zwischen Arne Friedrich, Heiko Westermann und Serdar Tasci - oder ist auch Jerome Boateng schon ein Kandidat?

Löw: Boatengs Entwicklung wird nicht aufzuhalten sein, er bringt sehr gute Voraussetzungen mit. Im Moment sehe ich aber einen der anderen drei auf dieser Position. Tasci ist gut in der Spieleröffnung, Friedrich in der Organisation, und Westermann ist stark im Zweikampf und in der Kopfballpräsenz.

SZ: In München haben Sie sich neulich mit Louis van Gaal getroffen. Haben Sie bei ihm ein gutes Wort für Ihre nicht gerade in Hochgefühlen schwelgenden Angreifer Mario Gomez und Miroslav Klose eingelegt?

Löw: Mario hat bei den Bayern die meisten Spiele von Anfang an gemacht, also kann niemand sagen, dass er nicht beachtet würde. Darüberhinaus betont van Gaal, dass Mario noch einiges lernen muss, und da hat er ja recht. Bei Miro ist es anders: Er hat nach seinem Empfinden gemeint, dass er noch Trainingseinheiten braucht, dass ihm das eher hilft, als auf der Bank zu sitzen oder ein paar Minuten zu spielen. Dadurch hat er aufgeholt. Dass bei den Bayern die Plätze im Team stark umkämpft sind, das ist normal, das muss so sein, wenn sie bis zum Mai nächsten Jahres vorn dabei sein wollen.

SZ: Gomez wirkt allerdings nicht glücklich über die Lage, und der Öffentlichkeit ist das nicht entgangen.

Löw: Die Enttäuschung ist verständlich, und es ist klar, dass das in den Medien in den Vordergrund tritt, aber davon muss sich ein Trainer - ob er van Gaal oder Löw heißt - freimachen. In Barcelona rechnet der Trainer aus, welcher Spieler pro Monat wie viele Minuten gespielt hat, damit am Ende alle ungefähr auf die gleiche Zeit kommen. Außerdem entwickeln sich Spieler nicht nur über Spiele, sondern vor allem über gute Trainingseinheiten, vor allem junge Spieler.

SZ: Die betroffenen Spieler sehen das aber wohl anders.

Löw: Die Spieler wissen das nicht. Aber der Trainer weiß es besser als die Spieler. Dazu gehört auch eine Planung übers Jahr, damit der Spieler informiert ist: Es ist besser, wenn ein Spieler im Jahr nur 25 Spiele macht, die richtig gut sind, als 40, von denen nur fünf gut sind.

"Thomas Hitzlsperger strebt Perfektion an"

SZ: Sie werden am Freitag Ihre Auswahl für die Länderspiele benennen. Die Frage ist wieder einmal, ob Torsten Frings dazugehört oder nicht. Man könnte die Auffassung vertreten: Wenn er jetzt nicht dabei ist, dann nimmer mehr.

Löw: Wenn ich einen Spieler definitiv nicht mehr möchte, weil ich glaube, dass er es nicht mehr schafft, dann sage ich ihm das ganz klar und offen. Bei Torsten Frings bin ich nicht dieser Meinung. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass er sich körperlich wieder stabilisiert hat. Deshalb halte ich mir alle Optionen offen bis zu dem Zeitpunkt, da ich den WM-Kader nominiere. Ich will personell alle Wahlmöglichkeiten behalten, und wenn ich jetzt einen Spieler nicht nominiere, heißt das nicht, dass ich ihn gar nicht mehr nominiere. Ich schlage niemandem die Tür zu. Auch Torsten Frings kann weiter in der Nationalmannschaft spielen, die Qualitäten hat er, wenn er körperlich fit ist. Bei ihm lege ich in physischer Hinsicht einen hohen Maßstab an, wenn er den nicht erreicht, dann wird es problematisch. Falls ich den Torsten gar nicht mehr möchte, dann sage ich ihm das direkt, und dann ist das Thema erledigt.

SZ: Womöglich hat sich Frings zuletzt ein paar Hoffnungen gemacht, nachdem Thomas Hitzlsperger in Stuttgart in die Formkrise geraten ist.

Löw: Bei Thomas sind die Probleme nicht körperlicher, sondern eher mentaler Art. Thomas macht sich ständig Gedanken, er strebt Perfektion an. Das spricht einerseits für ihn, ist aber manchmal zu viel, das überfordert ihn. Dazu kommt, dass die Rolle des Kapitäns neu ist für ihn, plötzlich muss er sich um viele andere Dinge kümmern, da sucht er noch den Weg. Er arbeitet an seinem Selbstbewusstsein: Er müsste auf seine vielen Stärken zählen, aber er denkt häufig über Schwächen nach. Mit Simon Rolfes ist es ähnlich. Er wirkt nach außen etwas ruhiger, aber auch er denkt viel über seine Fortschritte und seine Zielsetzung nach. Diese Entwicklung zur Eigenverantwortung und Selbständigkeit, die gibt es vermehrt im Nationalteam.

SZ: Selbst Lukas Podolski scheint in Köln einen Bewusstseinsschub dieser Art zu erleben.

Löw: Ja, jetzt beginnt auch bei ihm dieser Prozess. Er kam zu mir bei unserem letzten Treffen und hat erzählt, was aus seiner Sicht besser werden muss beim 1.FC Köln. Früher hat er sich keine Gedanken gemacht, welche Abläufe und Strukturen eine Mannschaft braucht. Er hat seine Position für sich gespielt, und jetzt ist er in Köln das Aushängeschild des Vereins und der Kopf der Mannschaft - obwohl es dort noch einige Spieler gibt, die älter sind und ihm Reife voraus haben. Jetzt hat er verstanden, dass es auch von ihm und seinem Verhalten abhängt, ob der 1. FC Köln wieder in die zweite Liga abrutscht. Er weiß, dass er auf dem Platz vorangehen muss, und er überlegt sich, was er außerhalb des Platzes tun kann. Das finde ich gut.

SZ: Michael Ballack hat neulich gesagt, dass er sich wahnsinnig freut auf das Spiel gegen Russland. Solche Spiele liebt ein Fußballer, meint er. Geht Ihnen das auch so?

Löw: Ich freue mich drauf, wirklich. So ein Finale ist einfach ein Highlight, jeder schaut darauf, das ist die Situation, die man haben möchte, als Spieler - und auch als Trainer.

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