Liverpool träumt vom Champions-League-Titel:Immer durch die Backsteinmauer

  • Beim FC Liverpool hat Trainer Jürgen Klopp bereits mit dem Einzug ins Champions-League-Finale Großes geschaffen.
  • Er ist seiner Philosophie treu geblieben - sein Team kann im Grunde nur volle Kraft voraus.
  • Doch reicht die Underdog-Idee auch gegen Real Madrid, gegen das sie voller Gelassenheit ins Finale gehen?

Von Sven Haist, Liverpool

In der Woche vor dem großen Finale startete der FC Liverpool seinen eigenen Countdown. An jedem Tag erinnerte der Klub auf der Homepage unter dem Titel "Kings of Europe" an einen seiner fünf Triumphe im Europapokal. Die Inhalte der ersten vier Folgen aus den Jahren 1977, 1978, 1981 und 1984 laufen spitz zu auf den Titelgewinn 2005, jenen heroischen Akt von Istanbul, der alles beinhaltet, was den Liverpool Football Club bis heute ausmacht.

Den Reds, wie sie wegen der knallroten Stammtrikots kurz genannt werden, gelang damals ein packendes Großereignis von globaler Wucht. 0:3 lautete der Rückstand gegen den AC Mailand zur Pause, binnen sechs Minuten war er durch Tore von Steven Gerrard (54.), Vladimir Smicer (56.) und Xabi Alonso (60.) egalisiert - nach torloser Verlängerung traf auch der Münchner Dietmar Hamann im erfolgreich bewältigten Elfmeterschießen. Es war ein Duell mit einer Dramaturgie, die jede Legende nährt.

Zwei Jahre später verlor Liverpool in Athen die Revanche gegen Milan mit 1:2; anschließend wurde es auf internationaler Bühne stiller, in ein Champions-League- Finale drang der Klub nicht mehr vor. Was aber ewig bleibt, ist die Erinnerung an die Nacht am Bosporus und den Namen des Kapitäns Steven Gerrard, der sich zu den Helden gesellte, die die Reds schon zuvor als ihre "Könige Europas" gefeiert hatten: Kevin Keegan, Kenny Dalglish, Phil Thompson und Graeme Souness. Über diesen stehen in der emotionalen Rangliste nur die Trainer Bill Shankly und Bob Paisley, die zwischen 1959 und 1983 den Mythos des Klubs begründeten.

Ein Augenzeuge dieser Entwicklung ist Graeme Souness. Für 350 000 britische Pfund wurde der Schotte 1978 aus Middlesbrough nach Liverpool transferiert. Sieben Spielzeiten lang prägte er im Mittelfeld den Verein. Nun gehört Souness, 65, zu den Meinungsführern in der Premier League. Im Gegensatz zu vielen seiner TV-Kollegen verbreitet er seine Analysen nicht in den sozialen Medien, das geht nur über eine Verabredung. "Eigentlich ist der FC Liverpool mehr eine Institution als ein Fußballverein", sagt Souness: "Wenn ein Kind geboren wird, dessen Eltern den Klub unterstützen, wird erwartet, dass das Kind dasselbe tut. Liverpool ist ein Verein, den man sich nicht aussuchen kann, weil Liverpool sich seine Anhänger auswählt."

Und auch den Trainer, der das Team betreut. Wohl selten hat der Charakter eines Trainers so deckungsgleich zu dem des Vereins gepasst wie der von Jürgen Klopp zu dem der Roten. "In Klopp steckt auch ein bisschen ein Scouser", sagt Souness. Als "Scousers" werden die Einwohner Liverpools wegen ihres irisch geprägten Akzents bezeichnet. Der Begriff leitet sich aus einer lokalen Eintopfspezialität ab, die wegen ihrer einfachen Zubereitung im ärmeren Teil der Bevölkerung im 19. Jahrhundert ein beliebtes und kostengünstiges Gericht war. Klopp ist in einer Arbeiterstadt, in Dortmund beim BVB, von 2008 bis 2015 einem breiteren Publikum bekannt geworden. In Liverpool, der Hafenstadt, setzt er sein emotionales Werk fort - dort an der Anfield Road gerät das Publikum in Ekstase, sobald er es animierend mit den Armen zum Lärmen auffordert.

Premier League - Liverpool vs Brighton & Hove Albion

Der Erfinder der roten Raserei: Jürgen Klopp, der erfolgreich in Mainz und Dortmund lehrte, bevor er die Reds aus Liverpool begeistern konnte.

(Foto: Carl Recine/Reuters)

Klopp, 50, das darf man ohne Übertreibung behaupten, hat dem Klub neues Leben eingehaucht (besser: eingeschrien). Liverpool befand sich auf Rang zehn der Premier League, als Klopp im Oktober 2015 die Nachfolge des Nordiren Brendan Rodgers antrat. Der knapp verpasste Ligatitel in der Saison 2013/14 drückte auf die Atmosphäre. Die sportliche Situation erforderte damals nicht zwangsweise einen Personalwechsel. Allerdings bemerkten die Klubbosse um den amerikanischen Geschäftsmann John W. Henry - dessen Fenway Sports Group den Verein im Oktober 2010 mit der Übernahme vor der Insolvenz bewahrt hatte - die Chance, Klopp zu einem Engagement bewegen zu können. Der befand sich nach der Trennung vom BVB gerade in einer Auszeit.

In einem Szenehotel in der Hope Street stellte sich Klopp als "The Normal One" - der Normalo - der englischen Öffentlichkeit vor. Er suchte damit verbal den Kontrast zu José Mourinho, der sich in seiner Zeit beim FC Chelsea und jetzt bei Manchester United gerne als "The Special One" inszeniert. Das kam an, Klopp kokettiert bis heute mit seiner Bescheidenheit.

Den Aufstieg ins Finale schreibt er seinen Spielern zu, er weiß ja, dass er in den Medien genug Erwähnung findet. "Bei einer Umfrage über Klopp würde man keinen Fan in Liverpool finden, der ihn kritisiert", sagt Souness. Hundertprozentige Zustimmung sei eine Rarität im Fußball, man finde immer einen, der was zu meckern habe: "Die Leute sind so glücklich wie zuletzt 1990, als Kenny (Dalglish, Anm. d. Red.) den Klub zum letzten Meistertitel führte."

Es war eine Art Liebe auf den ersten Blick, die Reds hießen Klopp am River Mersey willkommen, sein volksnahes Auftreten wirkte. Souness liefert dazu die Analyse: "Ich kenne kaum einen Klub, der mehr Leidenschaft besitzt als Liverpool, und kaum einen Trainer, der mehr Leidenschaft in sich trägt als Klopp. Deswegen passen Liverpool und Klopp so gut zusammen. Für mich ist das die perfekte Partnerschaft." Seine bildreiche Rhetorik und seine Menschenführung - eine mit Kumpel-Attitüde getarnte väterliche Strenge - sichern ihm die Akzeptanz, die genügt, um den Verein nach seinen Vorstellungen optimieren zu können.

Die Spieler folgen: In der Champions League hat Klopp die Mannschaft über die Hürden TSG Hoffenheim, NK Maribor, Spartak Moskau, FC Sevilla, FC Porto, Manchester City und AS Rom gelotst - am Samstag (20.45 Uhr, ZDF), zum Härtetest in Kiew, wartet Titelverteidiger Real Madrid. An die Spanier hat Liverpool eine gute Erinnerung, freilich aus jener Zeit, als die Königsklasse noch Europapokal der Landesmeister hieß: 1981 siegten die Reds im Endspiel in Paris mit 1:0. Anschließend gewannen die Madrilenen jedes europäische Finale, für das sie sich qualifizierten.

Liverpool verausgabt sich

In Liverpool haben sie vor allem Gefallen daran gefunden, wie Klopp Fußball spielen lässt: Immer aufs Ganze, immer nach vorn, die Fans lieben es, wenn die Post abgeht. Die Reds verausgaben sich auf dem Platz, weil sie sonst keine Chance hätten, mit Europas Besten mitzuhalten. Der Ärmel-hoch-Stil erinnert an ein Zitat von Bill Shankly, jenem Coach, dem eine Statue an der Anfield Road gewidmet ist: "Um gut genug zu sein für Liverpool, muss ein Spieler in der Lage sein, durch eine Backsteinmauer zu rennen und auf der anderen Seite weiterzukämpfen." Durch die eigene Gruppendynamik erschreckt Liverpool seine Gegner. Nach Ballgewinn wird steil gespielt und steil gesprintet, als gebe es kein Morgen und keine nächste Chance. "Das ist keine perfekte Mannschaft, nicht der stärkste Kader, aber die Mannschaft hat Feuerkraft", sagt Souness.

Im Angriff verfügt Liverpool über drei Pfeile: die Außenangreifer Mohamed Salah (Ägypten) und Sadio Mané (Senegal) sowie Mittelstürmer Roberto Firmino (Brasilien). Das Dreigestirn hat in dieser Saison 90 Pflichtspieltore erzielt, mit 44 Treffern liegt Salah, der beste Torschütze der Premier League, gleichauf mit Reals Cristiano Ronaldo. "Einer aus dem Trio wird sicher einen überragenden Tag erwischen. Aber nur wenn alle drei einen überragenden Tag erwischen, wird es auch ein überragender Tag für Liverpool", sagt Souness.

Die Abenteuerlust der Roten basiert auf der Idee, den besser eingeschätzten Teams die Kontrolle über das Spiel zu entreißen. Liverpools Intensität ist nicht beizukommen mit noch höherer Intensität, weil mehr schlicht nicht geht. Real wird versuchen, mit Routine dagegenzuhalten. Liverpool wird toben, Real versuchen, kalt lächelnd und spitz zuzuschlagen.

Sieben Mal Real Madrid

Champions-League-Endspiele seit 1998

98 Real Madrid - Juventus Turin 1:0 (0:0)

99 ManUnited - Bayern München 2:1 (0:1)

00 Real Madrid - FC Valencia 3:0 (1:0)

01 Bayern München - FC Valencia i.E. 4:3 (1:1)

02 Real Madrid - Bayer Leverkusen 2:1 (2:1)

03 AC Mailand - Juventus Turin i.E. 3:2 (0:0)

04 FC Porto - AS Monaco 3:0 (1:0)

05 FC Liverpool - AC Mailand i.E. 3:2 (3:3, 0:3)

06 FC Barcelona - FC Arsenal 2:1 (0:1)

07 AC Mailand - FC Liverpool 2:1 (1:0)

08 Manchester Utd. - FC Chelsea i.E. 6:5 (1:1)

09 FC Barcelona - Manchester Utd. 2:0 (1:0)

10 Inter Mailand - Bayern München 2:0 (1:0)

11 FC Barcelona - Manchester United 3:1 (1:1)

12 FC Chelsea - Bayern München i.E. 4:3 (1:1)

13 Bayern München - Bor. Dortmund 2:1 (0:0)

14 Real Madrid - Atlético Madrid 4:1 n.V. (1:1)

15 FC Barcelona - Juventus Turin 3:1 (1:0)

16 Real Madrid - Atlético Madrid i.E. 5:3 (1:1)

17 Real Madrid - Juventus Turin 4:1 (1:1)

18 Real Madrid - FC Liverpool ZDF / Sa. 20.45

Insgesamt gewann Real die Trophäe zwölf Mal.

Bei der Zusammenstellung des Kaders kann sich Klopp in Liverpool, ähnlich wie einst beim BVB, auf eine vorzügliche Analyseabteilung verlassen. Anders als bei der Konkurrenz ist es gelungen, in den Transferphasen von 2016 bis heute eine ausgeglichene Bilanz zu haben. Jeder der acht kostspieligen Zugänge, darunter Abwehrchef Virgil van Dijk (80 Millionen) aus den Niederlanden und die Ausnahmekönner Mané (40 Millionen) sowie Salah (40 Millionen) haben sich unter Klopp zu Stammkräften entwickelt. Die Fähigkeiten der Spieler entsprechen bis ins Detail den Anforderungen, die Liverpools Spielweise an sie stellt. So ließ sich auch der Verlust des brasilianischen Spielmachers Philippe Coutinho im Winter für 150 Millionen Euro an den FC Barcelona verkraften.

Für die stetig ansteigende Formkurve verantwortlich ist auch Athletiktrainer Andreas Kornmayer. Nachdem Klopp in seiner Debütsaison früh mit einer Elf an verletzten Spielern konfrontiert worden war, da viele offenbar mit der erhöhten Trainingsintensität nicht klarkamen, warb er Kornmayer 2016 vom FC Bayern ab. Mittlerweile setzt Liverpool auf eine konsequente Rotation des Personals. Die Verletztenliste ist übersichtlich geworden.

Der Erfolg hat jedoch auch zu einer Trennung geführt. Nach dem 5:2 über den AS Rom im Halbfinal-Hinspiel der Königsklasse verließ Zeljko Buvac "aus persönlichen Gründen" plötzlich die Troika um Klopp und dessen weiteren Assistenten Peter Krawietz. Dies lässt darauf schließen, dass sich das Verhältnis von Klopp und Buvac nach 17 gemeinsamen Jahren in Mainz und Dortmund abgenutzt hatte. Auf dem Trainingsplatz sollen sich beide am Ende möglichst weit voneinander entfernt aufgehalten haben.

Der stolze Buvac galt in Klopps Trainerteam als Kopf hinter Trainingsarbeit und Spielvorbereitung - aber auch als fordernder Geist. Nun scheinen sich Klopp und sein Trauzeuge Krawietz sicher zu sein, die positive Entwicklung des FC Liverpool auch ohne Buvac fortführen zu können. In den vier Partien nach der Trennung gewann Liverpool jedoch nur am letzten Ligaspieltag. Ein wichtiger Sieg, er sicherte Platz vier und damit wieder einen Startplatz für die Champions League in der kommenden Saison.

Auf den vorläufigen Höhepunkt in seinem Wirken als Trainer hat sich Jürgen Klopp mit seinem Team in Marbella in Spanien vorbereitet. Er selbst ist der Einzige aus dem Tross, der bereits ein Champions-League-Finale erlebt hat - jenes für ihn bittere 1:2 mit dem BVB gegen die Münchner Bayern im Jahr 2013 in London.

Souness kennt die Gefahren eines solchen Debütantenballs: "Keiner weiß, wie die Spieler auf den Anlass reagieren werden. Bislang haben sie uns großartig unterhalten, aber jetzt geht es nur noch ums Gewinnen." Und damit um die Frage, ob Jürgen Klopp die Roten auch in finaler Atmosphäre zur Raserei treiben kann.

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