Leverkusen in Barcelona:Jenseits von Größenwahn

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Der Wendepunkt: Einwechselspieler Roberto (r.) staubt zum 1:1 für Barcelona ab, nachdem Leverkusens Torwart Leno (l.) einen Schuss nicht halten konnte. (Foto: Lluis Gene/AFP)

Leverkusen entgeht ein Coup von historischer Dimension, weil es der Werksklub versäumt, Barça den Knockout zu versetzen.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Dieser 2:1-Sieg sei vielleicht ein bisschen glücklich, hat Marc-André ter Stegen später eingeräumt, und es dürfte wohl außer Frage stehen, wer über diesen Sieg besonders glücklich sein durfte: Ebenjener Marc-André ter Stegen, der bis zur 80. Minute der Partie gegen Bayer Leverkusen fürchten musste, in seiner Rolle als Champions-League-Torwart des FC Barcelona von den katalonischen und spanischen Kritikern zerrissen zu werden. Mindestens. Bis der Moment kam, in dem auf der Gegenseite auch sein seit vielen Jahren misstrauisch betrachteter Kollege und Landsmann Bernd Leno das Opfer widriger Umstände wurde.

Es gab Augenzeugen im Camp Nou, die genau gesehen zu haben meinten, dass Leverkusens Torwart Leno mit einem grotesken Missgeschick Barcelonas Ausgleich durch Sergio Roberto begünstigt hätte, und dass dies ja ein toller dramaturgischer Kniff des großen Intendanten sei, nachdem der altersgleiche Konkurrent seit Jugendtagen, ter Stegen, seinerseits durch einen groben Fehler das 1:0 für Bayer ermöglicht hatte (22./Papadopoulos). Aber erstens taugte dieses Spiel allenfalls am Rande als Leistungsschau im Wettbewerb der deutschen Torwart-Talente, und zweitens irrten die Augenzeugen, als sie Leno für etwas verantwortlich machten, für das er keine Schuld trug. Dieses 1:1, dem dann obendrein gleich darauf Barças 2:1 durch Luis Suárez folgte, war das Werk einer kollektiven Funktionsstörung, die bei Hakan Calhanoglu und dessen leichtfertigem Ballverlust im Spielaufbau anfing - deren Vorgeschichte aber eigentlich viel weiter reichte. Erstaunlicherweise besteht der Hauptvorwurf gegen Bayer 04 nicht darin, zehn Minuten vor Schluss im Zustand fortgeschrittener Erschöpfung das 1:1 und 1:2 kassiert zu haben, sondern darin, zuvor das entscheidende 2:0 verpasst zu haben. Die nötigen Möglichkeiten gab es zur Genüge.

Als nach Messi auch noch Iniesta ausfiel, schien Barça für ein paar Minuten demoralisiert zu sein

Hinterher ärgerten sich die Verlierer vor allem über sich selbst. Sie hatten einen Sieg von historischer Dimension aus den Händen verloren, weil sie in den entscheidenden Momenten nicht fest genug zugegriffen hatten. "Achtzig Minuten waren wir richtig froh, dann kommen zehn Scheiß-Minuten - und es bleibt nur Scheiße übrig", klagte Nationalspieler Christoph Kramer dem sid. Er hätte es etwas vornehmer ausdrücken können, aber die Gefühlslage verhinderte verständlicherweise eine feinsinnige Differenzierung. Es klänge "vermessen" oder gar "nach Größenwahn", sagte Kramer außerdem: Aber in diesem Spiel hätte man nicht nur gewinnen können. Sondern sogar gewinnen müssen.

Tatsächlich erzeugte die Bayer-Elf trotz der deutlich geringeren Spielanteile den Eindruck, das Geschehen unter Kontrolle zu halten. Strategisch waren die deutschen Gäste das bessere Team. Barcelona wirkte ohne den verletzten Lionel Messi beinahe gewöhnlich, und der Ausfall von Spielmacher Andres Iniesta während der Partie (vier Wochen Pause) schien die Hausherren noch mehr zu demoralisieren.

Dennoch nahm der Druck auf Bayer stetig zu, und es sollte sich zeigen, dass selbst ein für seine Verhältnisse gewöhnliches Barça fähig ist, in den entscheidenden Momenten auf außergewöhnlichem Niveau zu verkehren. Einen Schuss, wie ihn Suárez beim 2:1 abgab, den bringt auf dem Erdball eben nur eine Handvoll Auserlesener zustande. Ermöglicht allerdings wurde dieser famose Schuss durch das passive Verhalten in der Bayer-Deckung, die offenbar am Ende ihrer Konzentrationskräfte angelangt war. Insofern ist es doch ein Hinweis auf mangelnde Spitzenklasse, dass Leverkusen die maßgebenden Momente nicht nutzen konnte, obwohl sie sich mehrfach boten. Nicht nur bei der Riesenchance, die Chicharito zum 2:0 hatte (50.), sondern auch bei diversen Ballgewinnen während der zweiten Hälfte, die sich sogleich in Ballverluste verwandelten, weil jugendlich-überschwängliche Profis wie Kampl und Calhanoglu gleich den schnellen Weg nach vorn suchten, anstatt die Kontrolle zu wahren. "Wir hätten etwas mitnehmen können, und das vielleicht sogar verdient", bedauerte Trainer Roger Schmidt. Dieser Satz ist gerade deshalb wahr, weil er auf einem Konjunktiv aufbaut.

© SZ vom 01.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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