"Leitwölfe" im modernen Fußball:So zeitgemäß wie ein Stummfilm

Der deutsche Fußball wird international bewundert - trotzdem diskutiert man hierzulande aufgeregt über althergebrachte Führungsmuster. Dabei geht es nicht um Schweinsteiger oder Lahm, sondern den schleichenden Bedeutungsverlust ehemaliger Größen. Ein paar Anmerkungen zu einer seltsamen Debatte.

Boris Herrmann

Vor zwei Wochen hat die deutsche Nationalmannschaft Brasilien entzaubert, die Fußballwelt lag ihr zu Füßen. Und genau genommen liegt sie dort immer noch. Vicente del Bosque, der als spanischer Weltmeistertrainer als glaubwürdiges Sprachrohr dieser Fußballwelt zu gelten hat, schwärmte dieser Tage von der deutschen Mannschaft so ausgelassen, wie es Spanier sonst nur von spanischem Schinken, ab und an auch vom spanischen Fußball, keinesfalls aber vom deutschen Fußball zu tun pflegen.

SV Werder Bremen - FC Bayern München

Wenn Oliver Kahn (li.) etwas nicht passte, bohrte er schonmal im Gesicht eines Gegenspielers nach. 

(Foto: dpa/dpaweb)

Eigentlich müsste sich die Branche hierzulande erst einmal ausgiebig über sich selbst freuen, aber davon kann nicht die Rede sein. Das Gegenteil ist der Fall. Am Montag hat Oliver Kahn wieder gebloggt.

Das war aber auch höchste Zeit, sein Führungsspieler-Status in der von ihm selbst angestoßenen Führungsspieler-Debatte wäre sonst akut in Gefahr geraten. Kahn hat jetzt also noch einmal die letzten, die entscheidenden paar Prozent aus seinen Gedanken herausgekitzelt, und am Ende steht die Erkenntnis: "Mit Lautsprecherei hat er (der Führungsspieler) im modernen Fußball nichts gemein. Er überzeugt vielmehr konstant auf dem Platz und wird auf Grund seines Umgangs mit den Spielern innerhalb der Mannschaft geschätzt."

Es ist irgendwie richtig, was er da sagt, irgendwie aber auch banal. Vor allem klingt es nach einem steif formulierten Mittelfeld-Knigge. Und man darf bezweifeln, ob von der Kahn-Debatte abgesehen von Kahn überhaupt jemand Notiz genommen hätte, wenn er zuvor nicht genau das Gegenteil behauptet hätte.

Vor gut einer Woche hatte er noch einen Mangel an sogenannten "echten Führungsspielern" in Fußballdeutschland ausgemacht. Solche, "die den Finger in die Wunde legen, die auch mal unbequeme Wahrheiten aussprechen, denen ihr eigenes Image weniger wichtig ist als der Erfolg". Kurzum: Kahn beklagte, dass es keine Kahns mehr gibt. Keine Effenbergs, keine Sammers.

Keine Männer also, die im richtigen Moment zum Werwolf werden und ihrem Gegenspieler zur Not auch mal ins Ohrläppchen beißen, wenn es der Sache, respektive dem Erfolg dient. Alles Weicheier heutzutage - so konnte, so musste man Kahn verstehen.

Er hat sich dabei konkret auf die beiden Nationalelf-Kapitäne Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger bezogen und sie mehr oder weniger direkt dafür verantwortlich gemacht, dass der deutsche Fußball seit nunmehr einem Jahrzehnt auf einen internationalen Titel wartet. Das hatte Züge einer Schmähkritik. Und das saß.

Kahn, das muss man zur Entstehungsgeschichte seines Beitrags wissen, versucht gerade einen neuen Blog, ein neues Buch und eine neue Fernsehshow zu vermarkten. Der ehemalige Torsteher, um den es zuletzt etwas ruhiger geworden war, ist auf Aufmerksamkeit angewiesen. Zum Erfolg dieses Unterfangens kann man ihm nur herzlich gratulieren.

Der Diskussions-Leitwolf Kahn hat tatsächlich große Teile der aktuellen und ehemaligen deutsche Fußballprominenz dazu gebracht, in dieser Frage Stellung zu beziehen: Bundestrainer Joachim Löw und Bayern-Präsident Uli Hoeneß nahmen Schweinsteiger und Lahm in Schutz, der DFB-Sportdirektor Matthias Sammer sowie der freie Fußballphilosoph Franz Beckenbauer stellten sich in die Kahn-Ecke. Erst dadurch ist aus einem allzu offensichtlichen Selbstvermarktungs-Versuch eine öffentliche und, ja, auch eine typisch deutsche Debatte entstanden.

Es ist ja geradezu grotesk: Erstmals seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird der deutsche Fußball weltweit nicht nur gefürchtet, sondern auch bewundert, und gleichzeitig bricht im Umfeld des größten Klubs des Landes ein solcher Streit über längst widerlegte Autoritätsmuster aus.

Mal ganz unabhängig von der historisch belasteten Wortwahl - der Ruf nach einer unumstrittenen Führungsfigur, nach einem strengen Leitwolf wirkt so zeitgemäß wie ein Stummfilm. Spätestens mit der WM 2010 in Südafrika ist die Nationalelf im Zeitalter des Kollektiv-Fußballs angekommen, in dem es als stilbildend gilt, kurz zu passen, blockweise zu verschieben und gemeinsam anzugreifen.

Bedeutungsverlust der alten Fußballgarde

Lahm und Schweinsteiger waren die wichtigsten Diplomaten dieser stillen Revolution. Und der damals verletzte Michael Ballack, der wohl letzte Vertreter des von Kahn präferierten Feldherren-Fußballs, wirkte schon bei seinem Kurzbesuch am Spielfeldrand wie ein Fremdkörper und ist gleich wieder abgereist.

Nun will niemand behaupten, dass es in sogenannten flachen Fußball-Hierarchien keine herausragenden Figuren geben dürfe. Einer der begnadetsten und erfolgreichsten Spieler dieser Tage, der Spanier Xavi Hernandez, ist aber gerade die lebende Antithese zur Vorstellung von einem kickenden Feldherren. Xavi ist ein uneitler Dienstleister seiner Mitspieler, einer, der weniger mit Worten als mit Kurzpässen spricht. Und damit ist er eine Stilikone seiner Zeit geworden.

Nach einem ähnlichen Muster wie Xavis Barcelona funktioniert an guten Tagen übrigens auch das Gesamtkunstwerk Borussia Dortmund, das, wie die vergangene Saison zeigte, ebenfalls ohne klaren Leitwolf begeistern und gewinnen kann.

Wenn nun vor diesem Hintergrund einer wie Kahn meint: "Man sollte nicht so tun, als wären die heutigen Führungsmuster das Nonplusultra." Und wenn einer wie Sammer ergänzt, "die Gleichmacherei" sei der "Tod des Fußballs", dann wird klar, dass es hier längst nicht nur um Lahm und Schweinsteiger, sondern um eine Generationendebatte geht.

Die alte Fußballgarde sieht sich inmitten der allgemeinen Begeisterung um einen neuen, antiautoritären Jugendstil mit einem schleichenden Bedeutungsverlust konfrontiert. Sammer hat bei der EM 1996 den letzten internationalen Titel mit der Nationalmannschaft gewonnen, Kahn 2001 mit dem FC Bayern letztmals den Champions-League-Pokal nach Deutschland gebracht. Aber irgendwie scheint sich dafür niemand mehr so recht zu interessieren.

Und wenn sie nun trotzdem daran erinnern, wie sie das eigentlich gemacht haben, dann wirkt es, als wolle Reinhold Messner eine Gruppe von Freestyle-Kletterern darüber aufklären, wie man einen Berg besteigt.

Das Wesensmerkmal des von Kahn propagierten echten Führungsspielers ist, dass er "die letzten fünf Prozent abrufen kann" - und zwar dann, wenn es darauf ankommt. Kein Zweifel, Kahn, Sammer und Effenberg konnten das - manchmal.

Effenberg hat bei der WM 1994 seinen Leitwolf-Stinkefinger präsentiert, noch bevor es ernst wurde, und musste nach Hause.

Und der Leitwolf Kahn hat im WM-Finale 2002, als es wirklich ernst wurde, um etwa fünf Prozent daneben gegriffen. Daran muss man vielleicht auch mal erinnern.

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