Leichtathletik-WM: Gehen:Junge, halt durch!

Der Geher Andre Höhne aus Berlin verbietet sich bei seiner Heim-WM trotz ungeheurer Leiden das Aufgeben. Schließlich stand sein dreijähriger Sohn an der Strecke.

Thomas Hummel

Luca Höhne bringt nicht gerade ideale Voraussetzungen mit, um einmal ein Geher zu werden. Sein Vater Andre rät dem Dreijährigen von einer solchen Karriere ab. "Die Trainingsstrapazen, der Zeitaufwand, die fehlende Anerkennung in der Öffentlichkeit, das ist alles relativ undankbar", sagt Vater Andre. Und der muss es wissen, schließlich ist er der einzige deutsche Geher in der Weltelite. Andre Höhne, 31, vermeidet sogar die vorbereitenden Familien-Spaziergänge. "Das machen wir fast nie. Der Andre gibt da ein zu hohes Tempo vor", erzählt Ehefrau Janin.

Leichtathletik-WM: Gehen: Totale Erschöpfung: Der Geher Andre Höhne aus Berlin.

Totale Erschöpfung: Der Geher Andre Höhne aus Berlin.

(Foto: Foto: Reuters)

Schon Tage vor dem WM-Wettbewerb über 20 Kilometer war Andre Höhne, 31, stolz darauf, dass ihn sein Sohn zum ersten Mal bei einem großen Wettbewerb live erleben könne. "Das ist das Wichtigste für mich", sagte er. Und es war ja wirklich nicht weit von der heimischen Wohnung im Stadtteil Hohenschönhausen bis herüber zum Brandenburger Tor, wo der Papa als gebürtiger Berliner lautstark begrüßt wurde von den vielen Zuschauern. 100.000 standen an der Strecke. Janin und Luca standen dabei keine 20 Meter hinter dem Geherpulk. Schon jetzt war es für Andre Höhne das Rennen seines Lebens.

Ob Luca Höhne allerdings dieses Rennen zum Anlass nimmt, um gegen Papas Rat doch irgendwann die Geherlaufbahn einzuschlagen, erscheint fraglich. Denn nachdem der Vater zu Beginn noch forsch die Verfolgergruppe anführte und dafür viel Applaus erhielt, verzog er bald die Gesichtszüge zur gequälten Grimasse. Schon vor der Hälfte des Rennen mussten die Höhne-Fans fürchten, dass ihr Athlet früh aussteigen muss.

Dabei wollte er doch so gerne eine Medaille gewinnen, nachdem er in Helsinki 2005 Vierter war und vor zwei Jahren in Osaka wieder auf Rang vier kurz vor dem Ziel fehlgeleitet wurde, dann erschöpft und enttäuscht zusammenbrach und im Krankenhaus aufwachte. Doch diesmal war das Tempo vorne zu hoch für den Berliner, da half auch die beste Kenntnis der Strecke nichts. Zur Hälfte des Rennens lag er auf Platz 15, lange 31 Sekunden hinter den Besten.

Während vorne der russische Favorit Waleriy Bortschin (Weltmeister), der Chinese Hao Wang (Silber) oder der Mexikaner Eder Sanchez (Bronze) immer schneller wurden, mühte sich Höhne hinten ab. Er ging schließlich als 14. durch das Ziel am Brandenburger Tor, sichtlich gezeichnet von den Anstrengungen bei fast 30 Grad Celsius. Einige Meter weiter brach Höhne kurz zusammen, Helfer begleiteten ihn zum Erste-Hilfe-Zelt. Wo er sich allerdings schnell wieder erholte und bald mit Frau und Kind zum ersten Interview erschien.

"Zwischendurch dachte ich: Junge, warum machst du das alles?", gestand Höhne. Aber dann habe er sich daran erinnert, dass er sich in seiner Stadt befinde, seine Zuschauer und seine Frau an der Strecke stünden und gedacht: "Du musst auf jeden Fall durchhalten. Junge, gib dich nicht auf!"

Für alle Geher, auch für die 49 Nicht-Berliner, war dieser Wettbewerb ein einmaliges Erlebnis. Noch nie hatten sie eine derartige Aufmerksamkeit erfahren, denn zum ersten Mal gingen die Athleten nicht an der Peripherie der Sportstadien, wohin sich kaum jemand verläuft. In Berlin hatte der Veranstalter die Idee, das Gehen und den Marathon ins Stadtzentrum zu holen. Das sendet einerseits schöne Bilder der Berliner Sehenswürdigkeiten in die Welt, andererseits verhalf es den gehenden Leichtathletik-Exoten zu einem einzigartigen Wettbewerb.

Auf der Prachtstraße Unter den Linden drehten die Geher ihre zehnmal zwei Kilometer langen Runden. Start und Ziel lag am Brandenburger Tor. Für die Strecke benötigten die Athleten dennoch eine gute Psyche: 1000 Meter geradeaus, wenden, 1000 Meter zurück, wenden, und so weiter - abwechslungsreich war der Kurs nicht. Und Höhne konnte sich auch nicht an den schönen Bauten links und rechts erfreuen - "die kenne ich alle schon", hatte er verraten.

Stattdessen positionierte er seine Familienmitglieder an der Strecke als Fixpunkte. Onkeln und Tanten verteilten sich, und natürlich stand Janin mit Luca auf dem Arm irgendwo zur Motivationshilfe. Sie alle mussten den leidenden Andre Höhne sehen, der einer Medaille hoffnungslos hinterherging.

Vielleicht hat dieser Auftritt dennoch positive Wirkungen. Vielleicht hat das WM-Rennen in der Mitte der Stadt Höhnes Sportart soweit ins Bewusstsein der Leute gerückt, dass sie ihn künftig nicht mehr beschimpfen, wenn er seine Trainingsrunden durch Berlin zieht. In einem Interview mit dem Tagesspiegel hatte Höhne erzählt, dass er bisweilen unschöne Begegnungen hat, manche bezeichneten ihn "als Schwuchtel oder so, weil es eben atypisch aussieht als Mann so mit dem Po zu wackeln." Das tue schon weh, sagt er.

Dieses Rennen vor den Augen seines Luca dürfte ihn trotz des enttäuschenden Ergenissen für vieles entschädigt haben. Und wenn der Dreijährige aufgepasst hat, hat er gesehen, dass ziemlich viele Geher nach seinem Papa ins Ziel kamen. Einige mussten in der Hitze auch wesentlich mehr leiden, zum Beispiel ein Kubaner, der sich kurz nach dem Ziel übergab.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: