Leichtathletik-WM:Eine Hundertstel schneller

Leichtathletik-WM: Usain Bolt: Immer noch schnell wie ein Blitz

Usain Bolt: Immer noch schnell wie ein Blitz

(Foto: AP)
  • Usain Bolt gewinnt über 100 Meter gegen Justin Gatlin. Das Rennen stärkt allerdings kaum den Glauben, dass Sprint-Siege auch mit sauberen Mitteln zu erreichen sind.
  • Doping war das große Thema vor dieser WM, die Verunsicherung in der krisengeschüttelten Branche war noch nie so groß.
  • Liveticker und Ergebnisse der Leichtathletik-WM finden Sie hier.

Von Johannes Knuth, Peking

Am Nachmittag ist nochmal ein Gewitter über die Stadt gezogen, als wolle die Natur auch mitspielen und die Luft mit zusätzlicher Spannung anreichern. So blieb es dann auch bis zum Abend, als sich der Vorhang im großen Vogelnest zu Peking noch einmal hob. Zur Hauptattraktion. Neun Männer standen auf der Bahn, 100 Meter vor ihnen lag ein Zielstrich, wer ihn als Erster überquerte, würde Weltmeister sein. So einfach waren die Spielregeln auch an diesem Abend, und so einfach waren sie dann doch wieder nicht.

Auf Bahn fünf steht ein Sprinter im gelben Hemd, als sein Name vorgelesen wird, jubeln die Leute, sie kriegen sich gar nicht mehr ein. Auf Bahn sieben kauert ein Mann im roten Trikot. Die Leute buhen. Usain Bolt, der Weltrekordhalter aus Jamaika, der Mann im gelben Hemd, er ist der vermeintlich Gute in diesem Spiel. Er ist angetreten um seinen Titel zu verteidigen, aber in diesen Tagen geht es in der krisengeschüttelten Leichtathletik ja immer um Grundsätzliches.

Bolt, so hofft die gutgläubige Leichtathletik-Gemeinde, soll die Ziellinie eher passieren als der Mann im roten Hemd, der seine Zunge gerade der Kamera entgegenstreckt. Das Publikum hat sich Justin Gatlin als Bösewicht ausgesucht. Er hat zwei Dopingsperren hinter sich, er war beängstigend schnell in den Vorläufen, und der vermeintlich Gute soll dem vermeintlich Bösen jetzt zeigen, dass man im Sprint auch mit sauberen Mitteln zum Erfolg kommen kann. 100 Meter, um eine Sportart zu retten, selten war ein Duell so überhöht.

Und so schief gemalt. Die Männer senken ihre Körper über die Startlinie. Gatlin rauscht schneller aus dem Block, nach 60 Metern ist er noch vorne, doch Bolt saugt sich heran. Gatlin stolpert fast, Bolt gewinnt - in 9,79 zu 9,80 Sekunden. Bolt taumelt ins Ziel, er zieht Gatlin hastig an seine Brust, sie gucken aneinander vorbei. Dann geht Bolt auf seine Ehrenrunde, der Pianist Lang Lang spielt am Flügel, die Zuschauer singen "Usain Bolt, Usain Bolt", und als sie Lang Lang endlich den Saft abgedreht haben, ist Bob Marley dran: "Let's get together and feel alright".

Man kann nie in alle Tiefen einer Sportart leuchten, fürs Erste gilt das gesehene Bild. Und das zeigte am Sonntag: 1. Usain Bolt - 9,79; 2. Justin Gatlin - 9,80; 3. Trayvon Bromell, USA, und Andre De Grasse, Kanada - je 9,92. Das war das Schauspiel, das die Leichtathletik aufführte, die Zuschauer jubelten dabei über ein Happy End, das nicht so recht passte. Doping war ja das große Thema vor dieser WM, die ARD hatte eine Dokumentation in die Welt gesendet, jede dritte Ausdauermedaille der vergangenen Jahre unter Verdacht gestellt und dem Weltverband IAAF Nachlässigkeiten vorgeworfen.

Gatlin nutzt die Abneigung zur Motivation

Ob das alles stimmt, darüber streiten Experten und Funktionäre. Fakt ist: Leichtathleten misstrauen Leichtathleten, Leichtathleten misstrauen Funktionären, Funktionäre erklären Journalisten den Krieg, die über Dopingverdacht berichten. Wenn man eines aus der Debatte ableiten kann, dann dieses: Die Verunsicherung in der krisengeschüttelten Branche war noch nie so groß.

Die Sportler sind mit ihren Rollen in diesem Schauspiel überfordert. Der alte und neue Weltmeister hatte zuletzt genug damit zu tun, überhaupt in Form zu kommen für die WM. In Peking gab er sich betont lässig, er redete über Chicken Wings, seine Geburtstagstorte, Bolt wurde am Freitag 29. "Ich bin reifer geworden", sagte er. Zu den dringenden Themen sagt er nur so viel wie nötig: "Ich kann die Sportart nicht alleine retten", das müssten alle sauberen Sportler im Verbund leisten.

Nach dem Rennen sagte er, der Triumph bedeute ihm sehr viel: "Mein Ziel ist es, die Nummer eins zu bleiben, bis ich mich verabschiede." Er liegt ganz gut im Soll, das Gold in Peking war sein neuntes bei einer WM. Und vielleicht liegt darin auch das Problem, die Schizophrenie bei diesem Schauspiel zwischen Gut und Böse: Dass ausgerechnet jener Mann die Leichtathletik retten soll, der den überführten Dopingsündern seit Jahren davon läuft. Mal mehr, mal weniger. Gatlin wiederum nutzt die Abneigung, die ihm entgegenschlägt, um sich mit Motivation vollzutanken. Er beharrt darauf, dass er zwei Mal unwissentlich gedopt war; einmal soll ihm sein Masseur aus Frust heimlich eine Testosteroncreme eingerieben haben. Gatlin erklärt nicht, was damals genau geschah, er hat auch kein Problem damit, schneller zu laufen als vor seiner Dopingsperre. Er mag nicht mehr über diese Themen reden, das ist sein gutes Recht. Aber wenn es in der Wohnung mieft, wäre es dann nicht schlauer, die Fenster zu öffnen, anstatt die Rollläden runterzulassen? Ein Reporter fragte Gatlin am Sonntag in der Pressekonferenz sinngemäß, ob Bolt für den sauberen Sport gesiegt habe. Gatlin sagte: "Ich bin dankbar für diese Frage." "Geht es etwas konkreter?" "Ich bin ganz konkret dankbar." "Ich hätte gerne eine Antwort, die Frage ist wichtig."

"Sehr wichtig, ja. Ich bin dankbar." Lord Sebastian Coe, der am 31. August das Präsidentenamt bei der IAAF von Lamine Diack übernimmt, moderiert diese Debatte seit Wochen irritierend. Vor der WM hatte er gesagt, er fühle sich "mulmig" bei dem Gedanken, sich Gatlin als Weltmeister auszumalen. Nun mahnt er, man möge dem Amerikaner "Respekt entgegenbringen". Der Brite berät nach wie vor Nike, jene US-Firma, die Gatlin zuletzt mit einem lukrativen Zwei-Jahres-Vertrag ausstattete; jene Firma, die das dopingumwehte Oregon Project unterstützt. Sebastian Coe bekräftigte jetzt, dass er seinen mutmaßlich sechsstellig dotierten Beratervertrag nicht kündigen werde. Auch der Lord lässt die Fensterläden zu.

Bolt zum dritten Mal

Die 100-Meter-Weltmeister der letzten 20 Jahre:

Jahr/Ort: Sieger: Zeit in Sek.

1995/Göteborg: Donovan Bailey/Kanada: 9,97

1997/Athen: Maurice Greene/USA: 9,86

1999/Sevilla: Maurice Greene/USA: 9,80

2001/Edmonton: Maurice Greene/USA: 9,82

2003/Paris: Kim Collins/St. Kitts&N.: 10,07

2005/Helsinki: Justin Gatlin/USA: 9,88

2007/Osaka: Tyson Gay/USA: 9,85

2009/Berlin: Usain Bolt/Jamaika: 9,58 (WR)

2011/Daegu: Yohan Blake/Jamaika: 9,92

2013/Moskau: Usain Bolt/Jamaika: 9,77

2015/Peking: Usain Bolt/Jamaika: 9,79

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