Leichtathletik:Unter Strom

22 Nationales Sparkassenmeeting Jena 26 05 2018 Gina Lueckenkemper TSV Bayer 04 Leverkusen 22

Anspannung bis in die Fingerspitzen: Gina Lückenkemper.

(Foto: Axel Kohring/imago/Beautiful Sports)

Sprinterin Gina Lückenkemper wächst allmählich in eine neue Rolle hinein: als Botschafterin und Gesicht der deutschen Leichtathletik.

Von Johannes Knuth, Regensburg

Spaß ist, wenn man auch mal selbst über sich lacht, und Gina Lückenkemper beherrscht diese Kunst auf eine Art, die man nur schwer lernen kann. Wenn sie zum Beispiel erzählt, was sie ab und zu noch denkt, wenn sie in den Startblock steigt. "Gleich kommt der Schuss", oder: "Was mach ich dann?" Total bescheuert sei das eigentlich, sagt Lückenkemper, aber es war auch diese Erkenntnis, die sie zuletzt darauf brachte, warum sie sich oft als Letzte aus dem Block löst: Ihre Technik ist ja gut, sie reagiert nur spät auf das Startsignal, weil davor diese sperrigen Gedanken in ihrem Weg stehen. Lückenkemper arbeitete im Winter verstärkt mit Lars Lienhard zusammen, jenem Trainer, der ihr seit einer Weile hilft, neuronale Prozesse zu verbessern - damit das Gehirn etwa einen Hörimpuls schneller verarbeitet. Mit wechselndem Erfolg, bis jetzt. Passt schon, sagt Lückenkemper, "ich war schon immer die, die hinterhergelaufen ist". Und sie weiß ja: Wenn alles normal läuft, ist sie meist am Ende des Rennens ganz vorne.

Der Sonntag bei der Sparkassen Gala in Regensburg, es ist Lückenkempers zweiter Auftritt in dieser Freiluft-Saison. Sie führt zunächst die deutsche Staffel zu einer europäischen Jahresbestleistung (42,24 Sekunden), die 200 Meter lässt sie später aus, eine Vorsichtsmaßnahme. Die 21-Jährige ist längst ein Gesicht in der Szene, weil sie beides vereint: Hochbegabung und eine lockere Art, wie sie diese Begabung moderiert ("Meine Mama hat mich mit Hausarbeit geärgert, da bin ich schnell weggelaufen"). Doch seit der WM im vergangenen Herbst hat sich noch mal einiges verändert. Lückenkemper rauschte damals über 100 Meter nach 10,95 Sekunden ins Ziel, das war in Deutschland zuletzt der später mit Clenbuterol aufgefallenen Katrin Krabbe gelungen, 1991 war das. Lückenkemper war also in die Elite ihres Sports aufgestiegen, sie wurde ins Sportstudio eingeladen, dort erzählte sie die Geschichte, die wochenlang die Runde machte: Wie sie auf Lienhards Rat vor Rennen an einer Batterie leckt, um Nervenprozesse anzukurbeln, wie sie sich quasi unter Strom setzt. Lückenkemper, man spürt das in diesen Tagen, ist jetzt nicht mehr nur in der Szene bekannt, sie erscheint in Werbespots, die Leute tuscheln, wenn sie sie im Supermarkt erkennen. Sie ist nun ein Gesicht ihrer Sportart und in der Öffentlichkeit. Und wer in der Öffentlichkeit steht, wird ständig bewertet und gefragt, vor allem in diesem Jahr, in dem sie im August in Berlin die EM ausrichten.

Gina? "Die hat damit überhaupt kein Problem", sagt Uli Kunst, der sie beim TSV Bayer 04 Leverkusen betreut. "Sie hat sich immer als Botschafterin gesehen, um Kinder und Jugendliche für die Leichtathletik zu begeistern", sagt Kunst, für die EM in Berlin und überhaupt. Lückenkemper reiste im vergangenen Winter nach Ghana, sie ist Patin eines Kindes, ein Kooperationspartner des Deutschen Leichtathletik-Verbands vermittelte den Kontakt. Sie bemängelte auch immer wieder die Reform des deutschen Leistungssports; dass viele Athleten weniger auf dem Weg in die Spitze alimentiert werden, sondern wenn sie es geschafft haben. "Das ist so ein seichtes Sich-aus-dem-Fenster-lehnen", sagt Kunst über diese Wortmeldungen. Es ist kein Muss, aber es kann nicht schaden, wenn eine Botschafterin zu den drängenden Problemen ihres Sports etwas zu sagen hat.

Lückenkemper war mit 16 die drittschnellste Frau im Land, mit 18 wurde sie U20-Europameisterin über 200 Meter, vor zwei Jahren gewann sie EM-Bronze bei den Erwachsenen. Sie führt eine mentale Robustheit mit sich, die man auch kaum lernen kann, zum Beispiel vor ihrem U20-Titelgewinn. Da tanzte sie vor dem Start, um die Nervosität zu vertreiben. "Diese Lockerheit zu bewahren", sagt Lückenkemper, "ist so ziemlich mein größtes Ziel. Wenn mir das gelingt, kann ich alles schaffen." Bis jetzt, bestätigt Kunst, schaffe sie das, auch jetzt, da sie immer mehr ins Licht rücke. Lückenkemper sei eine Athletin, die sich von diesem Rummel und dem Wettstreit tragen lasse. "Wenn sie in den Fokus gerückt wird, bestätigt das ja auch ihre Leistung und sie als Person."

Man hat bei Lückenkemper selten das Gefühl, dass da eine Athletin vor einem steht, die auch ein Mensch ist. Sondern ein Mensch, der zufällig auch Athlet ist.

Ihre lockere Seite verhüllt manchmal freilich eine andere Art: hoch konzentriert, wenn es zählt, aufgeräumt, wie die meisten ihrer nationalen Konkurrentinnen (von denen Tatjana Pinto am Sonntag über 100 Meter in 11,11 Sekunden deutsche Jahresbestzeit lief). Lückenkemper sucht den Austausch und die Konkurrenz, trainiert oft mit Rebekka Haase und deren Trainer Jörg Möckel; sie tauschen sich über Trainingsmethoden aus, oder wie man eben die Reaktion am Start verbessert. Auch so könne man eine Zeit um elf Sekunden schaffen, ohne chemische Nachhilfe, sagt Kunst, diese Fragen kommen jetzt häufiger, da Lückenkemper in Bereiche stößt, in denen früher Athletinnen oft mit Pharmahilfe unterwegs waren. "Ich denke schon, dass wir die sind, die am meisten über den Tellerrand schauen. Wir sind ständig auf der Suche nach neuen Ideen", sagt Kunst, auf Vorträgen und Fortbildungen. "Das ist mit das Wichtigste, dass man nicht denkt: Ich hab's gelernt, ich weiß jetzt alles."

Lückenkemper, sagt Kunst, könne in ihrem Sport aufgehen, sie lasse aber auch los: beim Studium (Wirtschaftspsychologie) oder ihrem Pferd. "Sie schafft sich wirklich gute Auszeiten", sagt Kunst, denn wer nur am Sport hänge, brenne irgendwann aus, wie ein Arbeitnehmer, der auch nach Dienstschluss erreichbar ist. Kunst hat Lückenkemper trotz aller frühen Erfolge behutsam aufgebaut, mittlerweile trainieren sie sieben Mal pro Woche, aber selten zwei Mal am Tag. Manchmal muss man Abstand zu der Sache schaffen, die man am liebsten hat. Beziehungsweise: abschalten.

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