Leichtathletik:Sie sollen sich fürchten

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Die US-Leichtathletik feiert Tyson Gays windunterstützte 9,68 Sekunden als Zeichen für Jamaikas Sprintelite.

Jens Weinreich

Es ging ein Raunen durch das Hayward Stadion, als die Olympiamelodie des TV-Giganten NBC ertönte. Fanfarenstöße wie einst bei Ben Hur, dem mit Oscars überhäuften Movie. Das Zeichen zum Spektakel: zum Sprintfinale der Männer. Dwight Phillips hatte einen der besten Plätze inmitten der Arena. Er saß auf einem weißen Plastikstühlchen, nah an der Bahn, mit freier Sicht auf die Strecke. Doch Phillips machte keinerlei Anstalten, sich der 100-Meter-Show zu widmen. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Phillips, Olympiasieger und zweimaliger Weltmeister im Weitsprung, war gerade Vierter geworden mit 8,20 Metern. Sein Unglück konnte schrecklicher nicht sein. Er muss sich die Olympischen Spiele bei NBC anschauen.

Vom starken Wind angeschoben: Tyson Gays 9,68 Sekunden sind nicht so geschichtsträchtig, wie die Amerikaner glauben. (Foto: Foto: Reuters)

Tyson Gay, der Mann, auf den jetzt alle starrten, wäre tags zuvor auch beinahe ausgeschieden. "Ich habe irgendwie zwei Ziellinien vor mir gesehen", hatte er gesagt. Er entschied sich für die falsche Linie, bremste im Vorlauf zu früh - und rettete sich in die nächste Runde. Im Viertelfinale raste er zum Landesrekord von 9,77 Sekunden, bremste aber auch wieder ab. "Sonst", sagte der frühere Weltklasse-Sprinter Jon Drummond, einer von Gays Trainern, "wäre es Weltrekord geworden." Den hält seit dem 31. Mai Jamaikas Usain Bolt in 9,72 Sekunden.

"Das ist historisch"

Im Halbfinale der Trials ließ es Tyson Gay gemächlicher angehen. Für seine windunterstützten 9,85 Sekunden musste sich der Weltmeister nicht verausgaben. Im Endlauf dagegen sollte etwas passieren. Gay wurde von seinem deutschen Ausrüster mit Trikot und hellblauen Schuhen im Retro-Look bestückt, die eine Hommage an den großen Jesse Owens sind. Owens, Held der Nazi-Spiele 1936. Auf dieser Ebene wird Tyson Gay, 25, von den Marketingmenschen gehandelt.

Und dann passierte ja auch was. Tyson Gay spulte sein Pensum herunter wie eine Laufmaschine: Sein Start ließ nichts zu wünschen übrig, er kam schnell auf Touren und hielt die Geschwindigkeit, ohne zu verkrampfen. Es war eine nahezu optimale Vorstellung. Der Rest ging unter im Geschrei der Menschen: 9,68 Sekunden leuchteten auf der Tafel.

Zweiter wurde Walter Dix (9,80) vor Darvis Patton (9,84). Für Travis Padgett (9,85) blieb nur der Platz in der Olympia-Staffel. "Doch so schlecht geht es mir gar nicht", sagte Padgett. "Da rennt jemand 9,68 und ich war dabei. Das ist historisch!" Drummond frohlockte: "Was für ein Rennen! Die Jungs in Jamaika werden sich das heute Abend noch auf Youtube reinziehen." Sollte heißen: Die Jungs in Jamaika werden sich fürchten.

Nur die Qualifikation für Peking zählt

Die Inszenierung hatte nur einen Schönheitsfehler, die der Stadionsprecher bald überbrachte, das Resultat der Windmessung: 4,1 Meter pro Sekunde Rückenwind - nur zwei sind erlaubt. Leichtathletik-Statistiker sprechen deshalb von einer irregulären Leistung, die umgerechnet 9,78 Sekunden entspreche. Egal: "The! Fastest! Time! Ever!" brüllte der Ansager. Die bis dahin schnellste je erzielte Zeit (9,69 Sekunden) hatte vor zwölf Jahren Obadele Thompson (Barbados) in El Paso markiert. Thompson ist übrigens seit Oktober 2007 mit der überführten Doperin Marion Jones verheiratet, aber das ist ein anderes Thema.

Die Zuschauer und die amerikanischen Journalisten waren hochzufrieden. Nun haben die Jamaikaner in Usain Bolt den Weltrekorder - und die Amerikaner in Tyson Gay den Läufer mit der schnellsten je erzielten Zeit. Wenn sich das nicht vermarkten lässt, was sonst? Gay sagte, er sei gar nicht traurig über den Rückenwind. Ihm gehe es um das Symbol.

Hinter dem Komma stehe eine Sechs, das sei wichtig, weil Drummond ihm seit einem Jahr erzählt, dass er 9,6 Sekunden laufen könne. Andererseits betonte Gay mehrfach, bei den Trials interessierten ihn keine Zeiten, sondern nur die Qualifikation für Peking. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Auf der nächsten Seite: Warum Gay nun besser läuft - und welche Rolle die Biomechanik dabei spielt.

Klar erscheint derzeit nur, dass Gay sich seit dem Weltrekord von Bolt , als er um 13 Hundertstel distanziert wurde, deutlich verbessert hat. Wie auch immer. "Technisch war das in New York ein schreckliches Rennen", sagt Drummond. "Und trotzdem ist er noch Bestzeit gelaufen." Sie haben Einiges umgestellt, sagen sie. Gay hebe sein Schwungbein nicht mehr so hoch. Zudem haben sie an der Startphase gefeilt. "Ich bringe meine Hüfte mehr nach vorn", erklärte Gay. "Er kann sich jetzt besser bewegen, der ganze Sprint ist eigentlich ein großer Sprung", sagte Drummond.

"Reden, reden, reden"

Der Jungcoach dozierte über neue Erkenntnisse der Biomechanik, die man ins Training einfließen lasse. "Ich höre Vorträge der besten Leute und versuche, das in der Arbeit mit Tyson umzusetzen." Wie einfach das klingt: Talent, hartes Training, mentale Arbeit, revolutionäre Methoden - und das gepaart mit den Erfahrungen, die Drummond von seinem langjährigen Trainer John Smith übernommen habe: "Reden, reden, reden."

John Smith ist ein großer Trainer und sogar ein professioneller Schauspieler, der in etlichen Sitcoms und Movies spielte. Ein Charismatiker, der Olympiasieger und Weltrekordler am Fließband produzierte. Allerdings sind fünf seiner Athleten als Doper aufgeflogen, Drummond wurde mal mit Marihuana erwischt und Smith hat auch seine Balco-Verbindung. Das sind die Geschichten hinter den Super-Zeitlupen und olympischen Fanfarenstößen.

© SZ vom 01.07.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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