Leichtathletik:Schutzgeld für den Präsidenten

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Bis zu 700.000 Euro für eine vertuschte Dopingprobe: Neue Ermittlungen zeigen, wie intensiv in der Leichtathletik manipuliert wurde.

Von Thomas Kistner und Johannes Knuth, München

Der Verfasser des Schreibens wusste um die Brisanz seiner Zeilen. Und um sein giftiges Wissen. "Dieses Spiel, das weit außerhalb aller Gesetze gespielt wird", schrieb er an seine Mitwisser, könne "nicht einfach in die Grenzen des Rechts zurückkehren, ohne große Verluste zu schaffen, menschliche und finanzielle." Daher werde dieses dreckige Spiel irgendwann nicht nur seine russische Leichtathletik ruinieren. Der Weltverband IAAF, Anti-Doping-Spitzenfunktionäre, sie alle würden einen "riesigen schwarzen Fleck" abbekommen. Ans Ende setzte der Verfasser eine Drohung. "Wir werden nicht schweigen. Wir haben das Spiel nicht angefangen. Es war die IAAF, und sie soll das Opfer dieses künftigen Skandals sein."

Worte der Wut, der Prophezeiung.

Walentin Balachnitschew hat die Zeilen vor zweieinhalb Jahren gedichtet. Er war damals Präsident des russischen Verbands ARAF und Schatzmeister der IAAF. Und damit Teil einer Räuberbande. Entsprechend gut konnte er das Beben vorhersagen, das ein halbes Jahr später Leichtathletik und Weltsport erschütterte. Auch wenn es nicht er war, der das dreckige "Spiel" verpfiff. Es waren Journalisten und Kronzeugen, die Ende 2014 über flächendeckendes Doping in Russland berichteten, und wie sich überführte Täter bei der Leichtathletik-Spitze freikaufen konnten, mit Balachnitschews Geleitschutz.

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Mittlerweile haben Ermittler der französischen Finanzstaatsanwaltschaft, die daraufhin aktiv wurden, laut ARD und der französischen Zeitung Le Monde das Betrugsnest noch weiträumiger ausgehoben. Die Ermittlungen malen, wie Balachnitschews Mail, ein noch düsteres Bild von der Zeit unter der Verbandsführung um Lamine Diack, dessen Sohn Papa Massata, Diacks Anwalt Habib Cissé und Mitwissern. Sie legen Fährten zur Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, zu anderen Nationalverbänden. Und sie erinnern die neue IAAF-Führung, die nächste Woche in eine neue, porentief reine Ära aufbrechen wollte, an die Probleme im Jetzt: diesen Sumpf aus Doping, Erpressung, Korruption.

In den Fokus rückt erneut das Zahlsystem, mit dem sich überführte oder verdächtige Athleten in der IAAF freikaufen konnten. Diack junior erschlich sich mindestens seit 2011 über Gabriel Dollé, Chef des Anti-Doping-Ressort der IAAF, Zugang zu den Datenbanken des Verbands. Er informierte betroffene Nationalverbände über positive Proben, forderte Schutzgeld, im Falle Russlands also bei Balachnitschew. Der informierte wiederum die Athleten, die sich dann bei der IAAF freikauften. Bekannt war, dass sich die russische Marathonläuferin Lilija Schobuchowa auf diese Art auslösen wollte, letztlich erfolglos.

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Neu sind die Namen der russischen Geher Waleri Borchin, Olga Kaniskina, Wladimir Kanaikin, Sergei Kirdyapkin und der Hindernisläuferin Julija Saripowa. Sie sollen zwischen 300 000 und 700 000 Euro überwiesen haben, um starten zu können; viele von ihnen gewannen bei den Weltmeisterschaften 2011 und 2013 (in Moskau) sowie bei Olympia 2012 Medaillen. Bis die IAAF russische Athleten irgendwann doch sperren wollte - woraufhin Balachnitschew in seinem Schreiben drohte, die "Erpressung" der IAAF zu enthüllen. Diack sr. hatte derweil allein mit dem Schutzgeld aus Russland angeblich 1,5 Millionen Euro verdient.

Er streitet alles ab. Doch die Diacks beschränkten ihr Geschäftsmodell offenbar nicht nur auf Russland. Neben russischen Athleten sollen die französischen Ermittler eine Liste mit 17 weiteren Sportlern aufgetrieben haben, die ebenfalls ihre Dopingtests vertuschen konnten. Besonders pikant ist eine Spur nach Großbritannien, die in Balachnitschews E-Mail auftaucht. Er wisse von auffälligen Blutwerten "manch prominenter Athleten", darunter "ein Olympiasieger und Ikone des britischen Sports". Warum, fragt Balachnitschew, hat die IAAF diese Athleten nie sperren lassen?

Die IAAF teilt jetzt mit, sie könne keine Auskünfte erteilen, solange die Behörden ermitteln: "Wir unterstützen die Ermittler wie bisher." Der britische Verband und die Wada äußerten sich zunächst nicht. Vor allem die Wada gerät durch die neuen Enthüllungen massiv unter Druck. Balachnitschew behauptet in seinem Brief ja, Diack tausche sich über seine Deals mit "mächtigen Anti-Doping-Personen" aus. Die Wada hat dann im Herbst 2014 die IAAF-Ethiker informiert, dass russische Dopingsünder offenbar gegen Schutzgeld starten konnten. Selber blieb sie untätig. Wada-Präsident Craig Reedie behauptet laut ARD, nie etwas davon gehört zu haben. Die Pariser Staatsanwaltschaft, die in der IAAF-Causa nach SZ-Informationen mit amerikanischen Finanzermittlern zusammenarbeitet, ist verärgert darüber, dass als geheim eingestufte Akten in der Öffentlichkeit gelandet sind.

Allerdings haben inzwischen viele Betroffene Akteneinsicht, von Diack über Intimus Cissé bis zum damaligen IAAF-Arzt Dollé, angeblich auch die IAAF selbst, die Wada und damit das IOC, wie die SZ erfuhr. Nun wird spekuliert, wo etwas durchgesickert sein könnte; bei fast allen Parteien wären Interessen erkennbar. Die einen wollen den Druck auf Russland erhöhen, andere den Sportgerichtshof Cas beeinflussen. Wieder andere könnten sich selbst öffentlich in besseres Licht rücken wollen - oder die Ermittlungsinstanzen in ein trübes. Indem der Anschein erweckt wird, diese selbst könnten die Akten lanciert haben.

Erkennbar ist vorläufig nur eine Partei, der die Sache ohne eigenes Zutun ins Konzept passen könnte: das IOC. Die Enthüllungen wirken jedenfalls wie ein Radikal-Umschlag gegen alle Widersacher - die IAAF, die Wada sowie deren Chefs Sebastian Coe und Craig Reedie.

Als Quelle ist allerdings der langjährige Adlatus der Diack-Familie zu vermuten, Habib Cissé. Er war im Oktober einige Tage in Haft und intensiv zur Russland-Affäre verhört worden. Es wird eng für den Advokaten, wohl auch beruflich. Derweil ist der Mann, mit dem Cissé einst engste Geschäftskontakte unterhielt, Diacks Sohn und Marketingagent Papa Massata, im Senegal auf freiem Fuß und streitet weiter jedes Fehlverhalten ab. Die Justizakten bergen einen spannenden Mailverkehr zwischen Cissé und Papa Massata. Und die Ermittler registrieren erstaunt, dass sich Cissé jetzt von Le Monde zur Affäre interviewen ließ; das sei doch sehr "merkwürdig". "Dank mir", soll Cissé der Zeitung gesagt haben, sei Diack jr. überhaupt noch am Leben, nachdem er von den erpressten Millionen weniger als die Hälfte zurückgezahlt habe. "Die Russen hätten ihn vor langer Zeit umgebracht, man hätte seine Leiche nie gefunden." Coe gerät durch die Enthüllungen ebenfalls in Bedrängnis. Er habe nie etwas vom Korruptionsgestank mitgekriegt, hatte der Lord stets beteuert. Aber was bekam Coe dann überhaupt mit, seit er 2003 ins Council rückte? Oder wie TV-Reporter Jon Snow ihn einst fragte: "Haben sie damals geschlafen? Oder waren sie korrupt?"

© SZ vom 26.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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