Leichtathletik:Ringen mit dem Risiko

Mehrkampf-Meeting Götzis

Neue Dimension: Carolin Schäfer schafft in Götzis 6836 Punkte.

(Foto: Peter Rinderer/dpa)

Carolin Schäfer ist in die Siebenkampf-Weltspitze aufgestiegen. Auch, weil sie sich von nichts mehr entkräften lässt.

Von Johannes Knuth, Götzis

Die Siebenkämpferin Carolin Schäfer stand dann vor der Wahl: Sollte sie ihre Kraft beim letzten Versuch im Weitsprung drosseln, nach zwei ungültigen Erträgen? Sie würde viele Punkte verschenken, aber zumindest ein achtbares Ergebnis schaffen. Oder doch alles riskieren?

Ein weiterer ungültiger Versuch, und Schäfer würde keine Punkte in die Gesamtwertung tragen. Der schöne erste Tag, ein möglicher Hausrekord, alles würde in der Mittagshitze von Götzis verdampfen. Mit einem starken gültigen Versuch aber wäre der Ertrag enorm; Schäfer hatte alle vier Prüfungen zuvor mit persönlichen Bestleistungen abgelegt, ein seltenes Glück im zehrenden Mehrkampfbetrieb. Sie entschied sich fürs Risiko, wie beim Roulette, wenn man alles auf eine Farbe setzt. Oder in Schäfers Worten: "Arsch oder König." Der faden Sicherheit vertrauen, wenn der süße Erfolg so nahe ist, sagte die 25-Jährige später, "das ist einfach nicht meine Art".

Der Siebenkampf beim prestigeträchtigen Meeting in Götzis war am Ende einer für die Sportgeschichtsbücher, einer, den "ich so noch nie erlebt habe", wie Bundestrainer Wolfgang Kühne später befand. Zum einen, weil Schäfer für ihren Tanz mit dem Risiko belohnt wurde, bei 6,57 Metern landete - wieder Bestleistung - und ihre Bestmarke um knapp 300 Zähler auf 6836 Punkte anhob. Besser waren in Deutschland erst vier Siebenkämpferinnen. "Unfassbar", japste Schäfer, nachdem sie sich die Tränen aus den Augen gedrückt hatte. Zum anderen verbesserte sich Olympiasiegerin Nafissatou Thiam aus Belgien auf famose 7013 Punkte, Katarina Johnson-Thompson wurde bloß Vierte mit 6691 Punkten - ein Ertrag, der bei Olympia fast immer für eine Medaille gereicht hätte. Im Siebenkampf ist ein Wettbewerb entbrannt, den es selten gab, was umso beachtlicher ist, da die Taktgeber der vergangenen Jahre, Jessica Ennis-Hill und Brianne Theisen-Eaton, gerade ihre Karrieren beendet haben. "Die Karten sind neu gemischt", sagt Schäfer, und man kann festhalten, dass sich ihr neues Blatt durchaus sehen lassen kann.

Nicht, dass ihr mutiger Auftritt überraschte. Halbe Sachen sind eher nicht ihr Ding. Sie ist mit Trainer Jürgen Sammert früh in Richtung Weltspitze aufgebrochen, mit großer Freude an der Leistung. Eine ihrer Stärken ist, dass sie keine schwache Disziplin hat, sie ist mit viel Schnellkraft ausgestattet, auf diesem Fundament baut sie auf. Sie engagierte einst einen Ernährungsberater, Psychologen, hospitierte bei Spezialkräften wie Günter Eisinger, dem Trainer von Hochsprung-Rekordlerin Ariane Friedrich (2,06 Meter). Manchmal ist es ja vorteilhaft, wenn man einsieht, dass man nicht alles weiß. Schäfer ließ sich auch nicht entmutigen, wenn sie im Ringen mit dem Risiko unterlag: Bei der WM 2015 hatte sie im Weitsprung drei Ungültige. "Es gibt immer Hürden im Leben, man muss einfach stärker daraus hervorkommen", sagt Schäfer. Es klingt abgedroschen, aber bei ihr steckt da etwas mehr dahinter.

Im Frühjahr 2015 starb Schäfers Freund bei einem Verkehrsunfall, es war "die schwerste Zeit in meinem Leben", sagt sie heute, "aber es hat mich zu einer unglaublich starken Persönlichkeit gemacht. Mich kann nichts mehr umhauen." Und vermutlich kann sie auch deshalb entspannt über den Druck vor dem dritten Versuch referieren: Weil sie weiß, was eine echte Krise ist.

Dass der Erfolg jetzt besonders laut an die Tür klopft, dafür macht sie aber eher ihren fünften Platz von Rio verantwortlich. "Da bin ich wirklich zur Weltklasseathletin gereift, das hat mir unglaublich viel Sicherheit gegeben", sagt sie. Zum Beispiel, sich auch mal von gewinnbringenden Methoden zu trennen. Schäfer verzichtete zuletzt auf die Hallensaison, sie arbeitete mit Sammert an der Technik für die Sprünge, eine ihrer wenigen Schwächen. Sammert musste dann krankheitsbedingt kürzer treten, er verkleinerte seine Frankfurter Mehrkampf-Gruppe um Claudia Salman-Rath. Die Trennung verlief dem Vernehmen nach nicht gerade geräuschlos, die ehemaligen Trainingspartnerinnen würdigten sich in Götzis kaum eines Blickes. "Ich wollte auch beweisen, dass es die richtige Entscheidung war, dass er sich für mich entschieden hat", sagte Schäfer nur. Salman-Rath trainiert jetzt in Saarbrücken, bei Weitsprung-Bundestrainer Ulrich Knapp, den sie von ihren Ausflügen zu den Spezialisten kennt. In Götzis sprang sie 6,86 Meter, im Sog der Besten trieb es sie zu 6580 Punkten. "Dass ich das jemals schaffe, hätte ich nicht gedacht", sagte sie.

Und jetzt, nach dem "Wettkampf meines Lebens" (Schäfer)? Sie weiß, dass sich so ein Wochenende nicht beliebig kopieren und in die Saison einfügen lässt, mit dem Wetter, der Stimmung in Götzis, wo die Mehrkämpfer im Fokus sind. Bei der WM im August will sie "auf jeden Fall eine Medaille angehen, das ist das, wofür ich jeden Tag kämpfe". Sie dürfen im deutschen Verband also eine neue Führungskraft in der Weltspitze begrüßen, das kommt ihnen durchaus recht nach machen Rücktritten. Götzis, bestätigt Schäfer, war "eine völlig neue Dimension".

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