Leichtathletik-Präsident Lamine Diack:Marodes System eines Autokraten

Lamine Diack

Lamine Diack, Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF.

(Foto: dpa)
  • Der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes räumt nach 16 Jahren im Amt seinen Posten.
  • Sein Vermächtnis sieht der Senegalese sehr positiv, im Gegensatz zu Kritikern aus verschiedenen Ländern.
  • Das System des 82-Jährigen gilt als korrupt und willkürlich.

Von Michael Gernandt

Der zuweilen als archaisch verschriene Weltverband der Leichtathleten (IAAF) führt neuerdings eine kostenlose App im Angebot. Der ist allerlei Wissenswertes zu entnehmen und der Wortlaut einer Hymne auf den Verband mit dem Titel "Ein moderner Sport".

Darin wird das Hohelied auf die selbst bescheinigte Exzellenz gesungen. Von "Schwung und Entschlossenheit" ist die Rede und von Werten zur Bewältigung der "Herausforderungen des Lebens"; da heißt es, die Leichtathletik trage "den Mantel des führenden Olympiasports", finde bei Olympia und WM in "vollgepackten Stadien" statt und ziehe "Milliarden Fernsehzuschauer an".

Kluft zwischen Selbst- und Außenwahrnehmung

Autor des Vielzeilers ist der Präsident höchstselbst, Lamine Diack, 82. Der greise Senegalese räumt am 19. August nach 16 Jahren die Spitzenposition der nach Mitgliedsländern drittgrößten internationalen Sportföderation. Das erklärt den vorwiegend in rosarot gehaltenen Inhalt seiner Laudatio auf die IAAF - und irgendwie auch auf den, der sich qua Amt für all diese Segnungen verantwortlich wähnt.

Ein Vermächtnis also eines erfolgreichen Sportführers? Eher wohl eine Zustandsbeschreibung nahe der Schönfärberei. Sonst hätte Diacks möglicher Nachfolger, der Brite Sebastian Coe, kaum ein Zukunftsprogramm ("Manifesto") vorlegen müssen, das die Leichtathletik schier auf den Kopf stellt; und das deutsche IAAF-Vorstandsmitglied Helmut Digel rechtzeitig zu Diacks Rücktritt ein Buch ("On Athletics, challenges and solutions", Hofmann-Verlag, Schorndorf) veröffentlicht, das die Gebrechen seines Sports säuberlich auflistet; und der Diack-Kritiker und frühere Multifunktionär des italienischen Sports, Luciano Barra, ein Pamphlet ins Internet gestellt, das ihm globale Zustimmung einbrachte. Welche Leichtathletik also hinterlässt Diack tatsächlich seinem Nachfolger?

Einer Abrechnung der Ära Diack vorauszuschicken ist: Der Senegalese wurde Präsident, als die Jahre extremer Doping- und Kommerzexzesse sich erst abzuzeichnen begannen und nicht zu erkennen war, dass sich Diack nicht wirklich gegen sie stemmen würde. "Er kam mit einem Fiat 500 und musste dann einen Ferrari fahren", schildert Barra das Problem. Diack hatte den Chefsitz 1999 nach dem plötzlichen Tod des Italieners Primo Nebiolo aufgrund seiner IAAF-Position - er war Senior Vice-President - regelkonform ohne Wahl erhalten und erst für die Zeit von 2001 an das Votum des Plenums.

Präsident mit langer Mängelliste

Inzwischen sind die Schäden am Ruf der IAAF und an Diacks Integrität nicht mehr zu übersehen. Der frühere Bürgermeister von Dakar, senegalesische Minister und Parlamentsvize sieht das naturgemäß anders. Seine Neigung zu selbstherrlicher Attitüde lässt Kritik an seiner Person nicht zu. Sein Führungsstil gleicht dem eines Stammesfürsten, gern auch im wallenden Talar seiner Heimat: visionslos, gelegentlich herrisch-schroff und uneinsichtig, manchmal autokratisch und schon mal am Council vorbei.

Der Mängelkatalog der IAAF unter ihrem ersten nichteuropäischen Präsidenten wird angeführt von dem elementaren Versäumnis, den komplexen und verzopften Sport mit seinen altbackenen Formaten nicht längst reformiert und den Erfordernissen eines zeitgemäßen Veranstaltungsangebots angepasst zu haben. Digel sagt: "Wir haben die Modernisierung nicht geschafft." Über die Diamond-League-Serie, sein neben der WM bestes Stück, hat der Verband die Kontrolle verloren. "Das System ist in der Hand von Athletenmanagern", behauptet Barra.

So sinkt nun das Interesse bei jugendlichen Konsumenten, nimmt die Vergreisung auf den Tribünen zu, steigt das Desinteresse der Medien. Prompt reagierte die Vereinigung olympischer Sommersportverbände Asoif mit einer Maßnahme, die die IAAF ins Mark traf. Sie strich ihr das Privileg, unter den internationalen Föderationen Empfänger der höchsten IOC-Zuwendungen (TV-und Marketinggelder) zu sein.

Gleichwohl weiß Diack seine Geldmaschinerie zu schmieren. Er verführt den Markt mit Rekorden, die den Partnern die Exzellenz der IAAF verdeutlichen sollen, und die Athleten mit fetten sechsstelligen Prämien, auf dass sie sich zu Höchstleistungen aufschwingen, Verherrlichung garantiert, siehe Usain Bolt, Diacks Halbgott. Ein zynisches Spiel: den Betrugsanreiz, der in dieser Geschichte steckt, hat er nie erkennen wollen. Das ist Diacks System.

"Ich teile die Meinung, dass die letzten Jahre als korrupt und willkürlich beschrieben werden"

Damit ist man angelangt bei den jüngsten Vorgängen in der Leichtathletikwelt. Sie haben ihrem Ruf geschadet wie selten etwas zuvor und das empfindlichste Gut des Kommerzsports, die Glaubwürdigkeit, gerammt. Zum einen die vom Aufstieg an die globale Spitze des Rankings der Dopingbetrüger (vor Gewichtheben und Radsport) begleiteten Enthüllungen (ARD, Sunday Times) von Dopingskandalen in Russland und in Kenia. Der Umgang mit der Affäre ist schwammig, ihre Aufarbeitung undurchsichtig, wachsweich die Reaktionen auf nationale Manipulationsserien: Bestandteile einer systemimmanenten Politik in Verantwortung des Präsidenten.

Das gilt, Vorgang Nummer zwei, auch für die Vergabepraxis bei Weltmeisterschaften. Die WM 2019 wurde dem unverschämt heißen Doha anvertraut, nachdem die Kataris 30 Millionen Euro "Entscheidungshilfe" geleistet hatten. Für 2021 erhielt Eugene (USA) den Zuschlag, einen Bewerbungsprozess ließ Diack nicht zu.

Derlei hat den Argwohn gegenüber einem System gesteigert, dem Intransparenz, Korruption, Verdrängung und Verschleierung nicht fremd sind. Dem ZDF sagte Insider Barra: "Ja, ich teile die Meinung, dass die letzten Jahre, politisch gesehen, als korrupt und willkürlich beschrieben werden." Der nun anstehende Personalwechsel ist überfällig - ob es auch einen Systemwechsel gibt, steht auf einem anderen Blatt -, kommt aber acht Jahre zu spät. Schon Ende 2006 war Diack von Barra in einem offenen Brief zum Rücktritt aufgefordert worden. Erst jetzt geht der Afrikaner halbwegs freiwillig.

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