Leichtathletik:Diese Entscheidung wird Olympia prägen

Olga Kaniskina, Alexey Melnikov

Der ehemalige Chefcoach Alexej Melnikow und die heute überführte Geherin Olga Kaniskina beim Silbergewinn in London 2012.

(Foto: Dmitry Lovetsky/AP)
  • Der Leichtathletik-Weltverband IAAF entscheidet über den Ausschluss des russischen Verbandes von den Olympischen Spielen in Rio.
  • Der wäre nach all den Dopingenthüllungen wichtig für die Glaubwürdigkeit der Spiele.
  • Wahrscheinlich ist eine Kollektivstrafe aber nicht.

Von Johannes Knuth

Die Diskuswerferin Julia Fischer hatte ihre Zweifel schon länger mit sich herumgetragen, wie einen Rucksack, der während einer Wanderung immer stärker an den Schultern zieht. Zum Beispiel, wenn wieder einmal ein Athlet mit einem veränderten Körper aus der Winterpause auftauchte und seine Leistungen in nie zuvor erreichte Dimensionen schob.

In den vergangenen Monaten wurden ihre Zweifel Gewissheit, über den Betrug in Russlands Leichtathletik etwa. Nicht, dass sie überrascht war. Aber "es tut mir echt in der Seele weh", sagt Fischer, 26. Sie ist die beste Diskuswerferin im Land, bei Olympia in Rio will sie ein Medaille gewinnen, sie würde sich damit einen Kindheitstraum erfüllen. "Ich habe mit dem Sport angefangen, weil ich vor dem Fernseher saß und es toll fand, was an Emotionen im Stadion geschaffen wurde", sagt sie. "Als ich größer wurde, musste ich feststellen, dass das nicht überall existierte. Da hat sich bei mir ein Identitätsproblem aufgetan."

Neueste Meldung: Seit Februar wurden in Russland 736 Dopingkontrollen behindert

Die Leichtathletik hat zwei schwere Jahre hinter sich, das heißt einiges in einem Sport, der seit Jahrzehnten durch eine Glaubwürdigkeitskrise watet. Im Dezember 2014 enthüllten zwei Kronzeugen aus Russland, Witali Stepanow und Julia Stepanowa, in der ARD, was Russlands Leichtathletik bis zuletzt antrieb: Doping nach System, abgeschirmt vom Staat. Dem folgte ein Tiefschlag nach dem anderen.

Im November 2015 blieb dem Weltverband IAAF nichts anderes übrig, als Russlands Verband komplett zu verbannen, eine Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) war auf eine "tiefwurzelnde Kultur des Betrugs" gestoßen. An diesem Freitag könnte in Wien nun eine historische Entscheidung fallen: Sollte das IAAF-Council den Bann nicht aufheben, werden Russlands Leichtathleten die Spiele in Rio verpassen.

Es wäre erst das zweite Mal, dass ein Verband wegen systematischen Dopings von der olympischen Gästeliste gestrichen wird. Es wäre ein dringend nötiger Schritt, um den Bildern aus Rio etwas mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Und doch wäre es nur der erste, kleine Schritt. Letztlich geht es weniger um Russland, als um den Sport und seine Betrugsbekämpfung. Und damit um seine Zukunft.

Der Sport preist gerne seinen Anti-Doping-Kampf, aber dieser angebliche Kampf ist meist nur ein Anti-Doping-Management. Und dieses zeigte nur so viel Schmutz, wie es das eigene Produkt nicht zu stark befleckt. Die IAAF wehrt sich seit fünf Jahren dagegen, dass Wissenschaftler eine Studie veröffentlichen, wonach die Dopingquote bei der WM 2011 zwischen 29 und 35 Prozent lag. "Ein Publikations-Embargo", sagt der Tübinger Forscher Rolf Ulrich, der an der Studie mitarbeitete.

Man stößt selten auf die Wurzeln des Problems, etwa auf den Druck, den Trainer, Agenten, Sponsoren, auch Medien und Zuschauer mit ihrer Rekordlust entfachen - und der Sportler oft in die Systemfalle des Dopings treibt. Dieses Problem wurde nicht bei der Wurzel gepackt, es wurde personalisiert und kleingeschrumpft, während Journalisten und Ermittler immer mehr Schmutz an die Öffentlichkeit brachten. So hat sich ein Generalverdacht verfestigt.

Wahrscheinlich ist eine Kompromiss-Lösung

Am Mittwoch zitierte der Guardian aus einem Brief an Thomas Bach, den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), und Wada-Chef Craig Reedie, der Hinweise auf Systembetrug in Russland ignoriert haben soll. Die Athletensprecher beider Organisationen haben den Brief verfasst, "unser Vertrauen ist zertrümmert", schreiben sie. Das Vertrauen, dass die Hüter des Sports das Dopingproblem ernsthaft angehen wollen.

Wie die BBC am Donnerstag unter Hinweis auf E-Mails und Textnachrichten berichtete, gibt es nun ja auch neue Korruptionsvorwürfe gegen den IAAF-Präsidenten Sebastian Coe: Der 59 Jahre alte Brite soll sich bei der Wahl in vorigen Jahr Stimmen aus Afrika auf unlautere Weise gesichert haben; zudem soll er vom Doping- und Betrugsfall der russischen Marathonläuferin Lilia Schobuchowa früher gewusst haben, als er bislang zugab. Coe hat die Vorwürfe zurückgewiesen.

In diesem prekären Klima wird jedenfalls der Chor derer lauter, die fordern, Russlands Athleten aus Rio zu verbannen. Zumal vieles darauf hindeutet, dass der Betrug bis zuletzt anhielt - während in Hinterzimmern an einem Kompromiss gearbeitet wurde, um Russland, das viele Funktionäre und viel Geld bewegt, nicht zu sehr zu brüskieren. Das Council wird die Sperre am Freitag dem Vernehmen nach nicht aufheben, aber es könnte Einzelnen eine Hintertür öffnen: Wer bislang nicht erwischt wurde und sich vor den Spielen weiteren Tests unterzieht, darf in Rio starten.

Reformen wurden nicht umgesetzt

Blöd nur, dass die meisten Kontrollsysteme in Russland bis zuletzt stillgelegt waren, die russische Anti-Doping-Agentur war ja gesperrt - just in jener Vorbereitungsphase, in der Athleten am meisten von Schnellmachern profitieren. "Das sind keine vergleichbaren Bedingungen für Nationen mit funktionierenden Kontrollen", sagt Clemens Prokop, der Präsident des deutschen Verbandes. Am Mittwoch berichtete die Wada, dass zwischen Februar und Mai 736 externe Kontrollen in Russland scheiterten, weil Tester von Athleten und Geheimdienstarbeitern massiv behindert wurden. Eine Leichtathletin habe sogar spontan versucht, den Kontrolleur zu bestechen.

Russlands Athleten und Funktionäre pochen darauf, dass man einen Verband und seine Sportler nicht kollektiv bestrafen dürfe. Sie bedienen sich einer Logik aus dem allgemeinen Recht, der Kläger trägt dort die Beweislast, nicht der Beschuldigte. Im Dopingstrafrecht ist es umgekehrt: Der Athlet muss beweisen, wie etwas in seinen Körper gelangt ist. Und wenn ein System als tief korrupt gilt, muss es nachweisen, dass man ihm wieder trauen kann.

Die entsprechenden Reformen sind längst nicht umgesetzt, das hat die zuständige Kommission der IAAF dem Vernehmen nach festgestellt, sie präsentiert am Freitag ihren Bericht. Auch wenn Russland zuletzt Gegenteiliges behauptete, unterstützt von einer westlichen PR-Agentur. Als würde man eine Schrottkarre lackieren und als Neuwagen verkaufen.

Das Problem ist freilich kein ausschließlich russisches. Wer die Datenbank der IAAF durchforstet, stößt auf knapp 60 Athleten aus Russland, die gerade eine Sperre abbrummen. Aber auch auf rund 250 weitere Sportler aus 60 weiteren Ländern. Das macht die Sache kompliziert: Ab wann gilt das Kontrollsystem eines Landes als funktionstüchtig? Was ist mit den löchrigen Netzen in Afrika, laschen Trainingskontrollen in Jamaika, hohen Doping-Dunkelziffern in westlichen Ländern? Und wer kontrolliert eigentlich die Kontrolleure?

Doping-Kontrollen müssten unabhängiger werden

Am Mittwoch berichtete die New York Times, die russische Diskuswerferin Darja Pischtschalnikowa habe 2012 der Wada eröffnet, sie habe Informationen über das Betrugssystem Russlands. Die Wada? Schickte die Hinweise offenbar an jene russischen Behörden, die Pischtschalnikowa belastet hatte. Die Kontrolleure, auch das zeigt der Fall Russland, sitzen nicht im Sport. Sie sitzen in Redaktionen und in staatlichen Behörden, die sich immer häufiger einmischen.

Wenn die IAAF nun über Russland richtet, sagt DLV-Chef Prokop, "stellt sich auch die Glaubwürdigkeitsfrage für die Zukunft". Aber im Grunde kann die Leichtathletik auch mit einer Verbannung kaum Glaubwürdigkeit zurückerlangen, schon gar nicht der gesamte Sport. Wenn er wieder Vertrauen in seine Bilder schaffen will, muss er die Doping-Kontrollen aus den nationalen Agenturen lösen. Und einer unabhängigen Welt-Anti-Doping-Agentur übertragen, die nicht nur observiert, sondern kontrolliert, mit eigener Ermittlungseinheit. Ohne Personal, das auch in Sportverbänden wirkt. Craig Reedie, der seit 2013 die Wada leitet, ist gleichzeitig Vizepräsident des IOC, also Teil jenes Geschäfts, das er mit seiner Agentur durchleuchten soll. Da hält die olympische Familie im Zweifel lieber zusammen.

In einem Fall haben die Russen in der Vergangenheit übrigens sehr konsequent durchgegriffen: Bei Darja Pischtschalnikowa, der Diskuswerferin, die ihr Land bei der Wada verpfiff. Russlands Funktionäre sperrten sie kurz darauf für zehn Jahre.

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