Leichtathletik:Kleine Frau in einer Männer-Welt

Leichtathletik: Vorbeigeflogen: Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce gewinnt in Paris die 100 Meter in der Weltjahresbestzeit von 10,74 Sekunden.

Vorbeigeflogen: Olympiasiegerin Shelly-Ann Fraser-Pryce gewinnt in Paris die 100 Meter in der Weltjahresbestzeit von 10,74 Sekunden.

(Foto: Kenzo Tribouillard/AFP)

Die jamaikanische Sprinterin Shelly-Ann Fraser-Pryce zeigt beim Leichtathletik-Meeting in Paris außer einer Weltjahresbestzeit auch soziales Engagement.

Von Johannes Knuth, Paris

Shelly-Ann Fraser-Pryce klettert in den Startblock, sie strahlt jetzt diese Zuversicht aus, dass sich alles zu ihren Gunsten fügen wird. Eben hat sie kurz ihr Shelly-Ann-Fraser-Pryce-Lächeln gezeigt, es ist ein helles Lächeln, es soll davon ablenken, dass es tief in ihr drin vielleicht ein wenig anders aussieht. Sie ist beim Diamond-League-Meeting am Samstag in Paris die Kleinste im Feld der 100-Meter-Sprinterinnen mit ihren 1,52 Metern. Vor dem Rennen fahren sie in Paris die besten Athleten in winzigen Citroëns ins Stadion, die Athleten stehen auf den Sitzen, winken aus dem offenen Schiebedach ins Publikum. Fraser-Pryce schafft es gerade so, aus dem Schiebedach zu gucken. Als das Rennen eröffnet ist, löst sie sich etwas langsamer aus dem Startblock als der Rest.

Aber dann. Dann schiebt sich Shelly-Ann Fraser-Pryce, 28 aus Kingston/Jamaika, an allen vorbei. Als Erste passiert sie das Ziel, nach 10,74 Sekunden, Weltjahresbestzeit. Sie winkt, lächelt ihr Lächeln. Sie gibt sich professionell unzufrieden, "ich habe noch viel Spielraum, um mich zu verbessern", sagt sie. Hochleistungssportler müssen ja immer Platz zum Wachsen haben, es soll immer noch ein wenig mehr sein.

Fraser-Pryce spielt dieses Spiel routiniert mit. Sie hat sich längst ihren Platz gesichert in der Elite der besten Sprinter. Zwei Mal hat sie Gold bei den Olympischen Spielen gewonnen, jeweils über 100 Meter. Sie ist die aktuelle Weltmeisterin über 60, 100, 200 Meter sowie mit der 4x100-Meter-Staffel. Sie hat, nun ja, ihre Dopingsperre hinter sich, 2010 war sie mal für ein halbes Jahr gesperrt nach einem Positivtest auf ein Schmerzmittel, angeblich fing sie es sich bei einer Zahnarztbehandlung in Shanghai ein. Ein naiver Fehler, beteuerte sie, ein Einzelfall.

Fraser-Pryce gibt sich in diesen Angelegenheiten eher defensiv. Sie gibt sich überhaupt oft erst einmal defensiv; wenn sie über ihre Ziele redet, sagt sie: "Ich hoffe, dass ich umsetzen kann, was ich mir vorgenommen habe." Das lässt sich natürlich nicht so flott vermarkten wie das Rekordgerede ihres Landsmanns Usain Bolt. Nicht zuletzt deshalb klebt Bolt in Paris auf jedem Poster, jeder Klatschpappe. Der Jamaikaner hatte sich zu Wochenbeginn nur leider verletzt abgemeldet. Das Meeting verlief dann auch in seiner Abwesenheit ganz anständig, Asafa Powell rannte über die 100 Meter der Männer die zweitbeste Zeit des Jahres (9,81 Sekunden), der Franzose Jimmy Vicaut steuerte die Einstellung des Europarekords bei (9,86); es war das letzte Rennen des Abends, der Höhepunkt. Oder?

Ein Reporter hatte Fraser-Pryce vor dem Rennen gefragt, ob es sie nicht störe, dass die Dramaturgie, die Vermarktung der großen Meetings stets auf die Männer zugeschnitten sei. "Well", begann Fraser-Pryce, "ich bin hier, um ein Rennen zu laufen." Sie verwies an die Organisatoren, man kennt diese Bausteine aus dem Werkzeugkasten der Sport-PR.

Aber dann. Dann sagte Fraser-Pryce doch noch was. "Es sind halt Männer", Gelächter im Saal. "It's a men's world", bekräftigte sie, es ist eine Männerwelt, jetzt wurde es etwas stiller: "Wenn wir an der Startlinie stehen, sehen wir gut aus, wir laufen schnell, aber irgendwie interessiert ihr Euch nur für die Jungs." Vermutlich habe es etwas mit den Zeiten zu tun, sagt sie, "die Männer rennen Rekorde, 9,6, 9,5 Sekunden. Wir laufen 10,8". Fraser-Pryce wird wohl keine Weltrekorde mehr laufen, das ist vielleicht auch gar nicht so erstrebenswert. Die Bestmarken im Sprint der Frauen gehören seit 1988 der Amerikanerin Florence Griffith-Joyner; sie werden bis heute umweht vom Mief der hochanabolen Ära des Sports. Aber Fraser-Pryce weiß, dass die Masse auf Rekorde schielt, sie sagt: "Bei uns fehlt ein wenig der Wow-Faktor."

Was muss ein Hauptdarsteller im Theater der Welt-Leichtathletik leisten? Reicht es, wenn er seine Rekorde läuft? Seine PR-Texte aufsagt? Wenn die Leute in die Vorstellung strömen und die Notausgänge verstopfen, um Usain Bolt zu sehen? Oder sollte man sein Wirken mit Inhalt anreichern?

Im Fall von Bolt lautet die vorläufige Erkenntnis: Er rennt seine Rennen und sagt wenig, zumindest wenig Substanzielles. Bei Fraser-Pryce verhält sich das anders. "Mir wird schnell langweilig", sagte sie in Paris. Also kümmert sie sich um andere, mit ihrer Stiftung, der Rocket Pocket Foundation. "Das bedeutet mir sehr viel", sagte sie: "Ich will jungen Menschen helfen, die nicht zur Schule gehen können, die sich weder Bücher, Schuluniformen oder Essen leisten können." Fraser-Pryce weiß recht gut, wovon sie redet. Sie hat es selbst erlebt. Sie ist in Waterhouse aufgewachsen, einem rauen Viertel in Kingston. Ihre Mutter hatte die Schule abgebrochen, verkaufte Waren auf der Straße, um die junge Familie durchzubringen. Shelly-Ann Fraser-Pryce entwickelte früh den Antrieb, es irgendwann einmal besser zu haben.

Das nächste Jahr, sagt Fraser-Pryce, werde ein großes Jahr. Weil sie noch mehr Geld für ihre Stiftung sammeln wolle. Der Sport? Ach so, der Sport. Ja, da habe sie sich schon auch noch etwas vorgenommen. Bei der WM im August in Peking wird sie nur die 100 Meter laufen, die Beine ein wenig schonen. 2016, in Rio, wird sie die 200 Meter wieder hinzufügen.

Nicht, dass ihr noch langweilig wird.

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