Leichtathletik:Gold auf der Ehrenrunde

Die 4x100-Meter-Staffel überrascht bei den Paralympics, auch dank der professionellen Arbeit bei Bayer Leverkusen - und weil das amerikanische Quartett disqualifiziert wird.

Von Ronny Blaschke, Rio de Janeiro

Jörg Frischmann hat sich im Olympiastadion hinter den Fernsehkameras postiert, wenige Meter von der Laufbahn entfernt. Nervös klopft er mit den Fingern auf die Absperrung und starrt auf die Leinwand. Die deutsche 4x100-Meter-Staffel war als Zweite ins Ziel gelaufen und befand sich gerade auf der Ehrenrunde, als der Stadionsprecher ihren Paralympics-Sieg verkündet. Die US-Amerikaner, eben noch spitze, wurden wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert. Als Jörg Frischmann das verinnerlicht, weiß er nicht, ob er aufspringen oder seine Kamera zücken soll. Es wird eine Mischung aus beidem.

Jörg Frischmann hat am Montagabend dann viele Fotos gemacht. Er wollte die Szenen festhalten, in denen sich nun jahrelange Arbeit verdichtet hat. Die amputierten Sprinter Markus Rehm, David Behre, Felix Streng und Johannes Floors haben mit 40,82 Sekunden einen neuen Europarekord aufgestellt. Gold wurde es, weil den Amerikanern derselbe Wechselfehler wie in London 2012 unterlaufen war: Der zweite Läufer hatte den dritten vor der Wechselzone berührt. "Dazu gibt es eine Wechselzone", sagte Markus Rehm. "Sie sind das bessere Rennen gelaufen. Sie hatten die bessere Zeit. Aber sie haben einen Fehler gemacht. Und wir sind das bessere Team!" Insgesamt war es eine Leistung, durch die sich auch Jörg Frischmann bestätigt fühlen darf. Seit bald zwanzig Jahren leitet er nun die Behindertensportabteilung von Bayer Leverkusen - alle vier Läufer stammen aus diesem Verein.

Nach dem Training besuchen sie regelmäßig Krankenhäuser und ermuntern Unfallopfer

"Die Jungs haben bei uns optimale Bedingungen", sagt Frischmann. In den vergangenen zwei Jahren hat die Staffel jeden Dienstag eine Extraschicht eingelegt. Das ist einmalig unter den Mannschaften an der Weltspitze, deren Mitglieder selten an einem Standort leben. Kurz nach der Staffel gewann Irmgard Bensusan über 400 Meter Silber, auch sie kommt aus Leverkusen. David Behre holte über 200 Meter zudem noch Einzel-Bronze. Und bis zum Ende der Paralympics dürften etliche Vereinskollegen weitere Medaillen gewinnen. Bayer Leverkusen stellt zehn von 38 deutschen Leichtathleten. Es lohnt sich also, das Modell zu erkunden, das in Deutschland den paralympischen Standard setzt.

Rio 2016 Paralympic Games Rio de Janeiro 12 09 2016 Die Deutsche 4x100m Staffel T42 T47 mit v l

Eigentlich hatten sich Markus Rehm, David Behre, Felix Streng und Johannes Floors (oben v. links) schon ausgiebig über Silber gefreut. Danach jubelten sie noch einmal über Gold.

(Foto: Beautiful Sports/imago)

Jörg Frischmann kam mit Fehlbildungen an Händen und Füßen auf die Welt. Als Jugendlicher hatte er keine Lust auf Behindertensport. Er probierte viel aus, ging schwimmen, spielte Handball, wurde in den Vereinen rundum akzeptiert. 1986 fehlte bei Behindertensportlern aus seinem Freundeskreis ein Spieler im Tischtennisteam. Frischmann machte mit und war begeistert. Er informierte sich weiter, trainierte hart, nahm an fünf Paralympics teil, seine Bilanz bei internationalen Wettkämpfen: 25 Medaillen. Frischmann baute ein Netzwerk auf, über das in Europa nur wenige verfügen.

Und es sprach sich herum. Der Chemiekonzern Bayer hatte 1950 seinen versehrten Mitarbeitern erstmals ein Sportangebot unterbreitet. Leistungssport kam in den 1980ern dazu, und früh trainierten behinderte Schwimmer, Leichtathleten und Volleyballer mit Nichtbehinderten zusammen. Jörg Frischmann, der in Köln Sport studierte, erarbeitete 1998 ein Konzept zur Professionalisierung - und setzte sich durch.

Die paralympische Infrastruktur in Leverkusen ist beispiellos: Es sind kurze Wege von der Leichtathletikhalle zu Physiotherapeuten, Sportpsychologen und Orthopädie-Technikern. In der Leichtathletik beschäftigt der Verein zwei hauptamtliche Trainer, für Sitzvolleyball und Schwimmen ist jeweils eine halbe Stelle vorgesehen. Dieses Maß an Hauptamtlichkeit ist im Behindertensport selten. Die begüterte Bayer AG macht's möglich. Andere Standorte können da nicht mithalten.

Paralympische Spiele, Leichathletik, 4x100 Meter Staffel T42-47 Finale

Eigentlich war US-Staffel (mit Hunter Woodhall, l.) allen davongelaufen, auch der Deutsche Johannes Floors (2.v.l.) konnte nicht folgen. Doch wegen eines Wechselfehlers wurden sie disqualifiziert.

(Foto: Kurth/nordphoto)

Doch es sei nicht so, dass in Leverkusen nur Medaillen gezählt werden, berichtet Steffi Nerius auf der Tribüne des Olympiastadions von Rio. Nerius war eine erfolgreiche Speerwerferin, gewann olympisches Silber 2004 und den WM-Titel 2009. Sie ist zudem ausgebildete Sportlehrerin und trainiert seit Langem Markus Rehm. Als sie in Leverkusen im Behindertensport anfing, schickte sie 600 Briefe an Schulen im Umkreis, Antworten erhielt sie kaum. Das änderte sich, weil sie immer wieder nachhakte. Nerius baut nun das Sportlerinternat in Leverkusen auf, und der Verein pflegt eine Partnerschaft mit einem Sportgymnasium. Felix Streng, einer der Gold-Staffelläufer von Rio, wurde dort 2014 "Eliteschüler des Jahres".

Jörg Frischmann denkt oft an die Anfänge der Sportler zurück, und die waren meist von Leid geprägt. Markus Rehm war unter eine Schiffsschraube geraten, David Behre von einem Zug erfasst worden, Heinrich Popow hatte einen Tumor in der Wade. In Leverkusen wurde ihnen ein sportlich aktives Leben mit Prothesen geebnet. Möglich wird das durch ein breites Netzwerk - mit Krankenhäusern, Rehazentren, Selbsthilfegruppen. Rehm, Popow und Johannes Floors sind selbst Orthopädie-Techniker oder werden es noch. Regelmäßig gehen sie in Krankenhäuser und ermuntern Unfallopfer.

Es dauerte nicht lange, da dachte Jörg Frischmann in Rio schon wieder an die Zukunft. Die Talentförderung, sagt er, sei im Behindertensport noch stark von Zufällen geprägt. Eltern erkennen oft spät, wie wichtig Sport für ihre behinderten Kinder sein kann. Der kurze Rausch der Paralympics wird Frischmann helfen. Er hat nun wieder Anfragen von Sportinteressierten bekommen. Sie hatten Behindertensport in die Suchmaschine eingegeben - und heraus kam: Leverkusen.

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