Leichtathletik-EM:Im schwedischen Meer

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Mit Weltoffenheit und nordischem Pragmatismus tragen die EM-Gastgeber in Göteborg ihre Athleten von Erfolg zu Erfolg.

Thomas Hahn

Die letzten Stunden vor dem Start wird Johan Wissman vergessen, so wie eine Mutter die Schmerzen bei der Geburt vergisst. Er wird nur noch wissen, dass sie da waren, aber er wird nichts in Frage stellen deswegen, sonst könnte er ja gleich aufhören als 200-Meter-Sprinter für Schweden.

Europameisterin im Siebenkampf und absoluter Publikumsliebling in Göteborg: Carolina Klüft. (Foto: Foto: dpa)

Seine Nervosität war zu groß vor den EM-Rennen im voll besetzten Ullevi-Stadion, seine Furcht, die Landsleute zu enttäuschen und eine seltene Chance zu verpassen.

Johan Wissman, 23, wird sich eher daran erinnern, dass er hinausging in die Arena und seine Bedenken plötzlich in einem freundlichen Meer aus Tönen und Farben versanken.

"Ich konnte an dieser Atmosphäre teilnehmen", sagte er, sie kam ihm vor, wie ein Rückenwind, der zu einem hilfreichen Sturm anschwoll, sobald er aus den Startblöcken schnellte. Mit Landesrekord von 20,38 Sekunden qualifizierte er sich für das Finale, mit der gleichen Zeit stürmte er zu Silber hinter Francis Obikwelu aus Portugal. Johan Wissman sagt: "Die Menge hat mir geholfen. Und sie scheint anderen Schweden auch zu helfen."

Applaus gegen Versagensangst

Diese EM ist ein schwedischer Triumph, das kann man jetzt schon sagen, obwohl sie erst am Sonntag zu Ende geht. Denn mit ruhiger Fröhlichkeit blicken die Schweden von ihrer eigenen Bühne auf die internationale Leichtathletik und machen dabei den Eindruck, als hätten sie den chronischen Problemen des olympischen Kernsports tatsächlich etwas entgegensetzen.

Sie feiern ein Fest, das nicht nur eine patriotische Regung ist, sie demonstrieren ihre Weltoffenheit, indem sie von vollen Rängen über ihre Gäste jubeln und den heimischen Athleten mit aufmunterndem Applaus die Versagensängste nehmen. Die Sportler wiederum geben sich als bekennende Abkömmlinge einer strengen Antidrogen-Mentalität. Mit ihren klaren Gesichtern überstrahlen sie jene EM-Gewinner, die sich mit sagenhaftem Stehvermögen und oberflächlichem Gerede dem ewigen Verdacht aussetzen. Und sie schaffen es, die Hoffnungen ihres Publikums zu erfüllen.

Erst im vergangenen Jahr bei der WM in Helsinki hat man einen jungen Heimspieler an den Erwartungen scheitern gesehen. Speerwerfer Tero Pitkämäki war die einzige Goldchance für Finnland und kam damit nicht zurecht. Er wurde Vierter und stürzte eine ganze Nation in Trauer. Die Schweden dagegen haben geliefert, was sie versprochen haben: drei Medaillen in den ersten vier Tagen. Gold durch Siebenkämpferin Carolina Klüft, Bronze durch Hochspringer Stefan Holm, Silber durch Johan Wissman, und die anderen Favoriten sind locker in ihre Endläufe geeilt.

Besonders die Stars profitieren vom Teamgeist

Ein intelligentes Trainingssystem hat eine ganze Generation von erfolgreichen Individualisten hervorgebracht und die stellen sich nun bereitwillig in den Dienst einer Hochleistungsgemeinschaft, die wie eine große Familie wirken soll. Vor der EM bezog die Mannschaft ein Trainingslager nahe Cannes unter südfranzösischer Sonne, um fern von schwedischen Fans und Journalisten noch einmal gemeinsam Luft zu holen, und besonders die Stars profitieren von diesem Teamgeist. "Die EM steht und fällt nicht mit deinem Abschneiden allein", sagt Dreisprung-Olympiasieger Christian Olsson, der am Samstag nach EM-Gold greift. Das gibt Sicherheit.

Nordischer Pragmatismus hat die Vorbereitungen der Schweden auf diesen emotionalen Höhepunkt geprägt. Jeder Athlet hat seinen Mentaltrainer und jeder weiß, was er wann zu tun hat. Die Nähe zu ihrem Publikum ist Carolina Klüft und den anderen wichtig, geduldig geben sie Autogramme, schon nach Qualifikationswettkämpfen widmen sie sich ausführlich der heimischen Presse, um dann rechtzeitig wieder in ihrer eigenen Welt zu verschwinden.

Sie schaffen ein Klima des Zuspruchs und ziehen klare Grenzen. "Mit jemandem wie Olsson können Sie nach dem Wettkampf fast alles machen, aber vorher wird nicht einmal seine Freundin mit ihm sprechen", sagt Teamarzt Sverker Nilsson. "Wir wissen, wann wir Spaß haben können und wann nicht."

Klüft mit Tränen in den Augen

Sie haben die Nervosität nicht ganz ausschalten können, dazu nehmen die Sportler den nationalen Auftrag wohl auch zu ernst. Die Schweden lieben Carolina Klüft auch deswegen, weil sie in Växjö geblieben ist und nicht wie Olsson oder Hochsprung-Weltmeisterin Kajsa Bergqvist ins Steuerparadies Monaco gezogen ist. Und sie waren schwer betroffen, als das Fernsehen ihre Caro vor dem Hürdensprint zum Siebenkampf-Auftakt auf dem Aufwärmplatz mit Tränen in den Augen zeigte. Sie hatte zu viel nachgedacht.

Sie hatte sich daran erinnert, was sie den Landsleuten bieten wollte, dass sie bei ihrem letzten Start im Ullevi-Stadion über die Hürden gestürzt war. Sie spürte wieder Schmerzen an der Kniesehne. Alles psychisch, sagt Nilsson: "So nervös war sie noch nie." Der warme Applaus im Stadion half ihr darüber hinweg. Danach hat sie erst wieder bei der Nationalhymne zu ihrem Sieg geweint.

Die Schweden und ihre Sportler scheinen sich gegenseitig zu stützen bei ihrem EM-Fest. Carolina Klüft jedenfalls erlebt Göteborg zwischen Anspannung und Freude am Erlebnis. Ob die Teilnahme am Weitsprung-Finale am Sonntag, das sie mit einer Weite von 6,53m erreichte nicht zu viel sei für ihren beanspruchten Körper? Sie glaubt nicht. Vielleicht läuft sie sogar in der Sprintstaffel mit. Sie will wieder hinaus, zu ihren Leuten im Ullevi-Stadion.

"Ich habe diese Woche", sagt sie, "und diese Woche wird nie mehr wiederkommen." An die Schmerzen erinnert sie sich nur noch dunkel.

© SZ vom 12.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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