Leichtathletik:Eine Sache von Sekunden

Bei der Nominierung des deutschen Verbandes für die Weltmeisterschaften in Peking im August geht es nicht ohne Härtefälle.

Von Johannes Knuth

Idriss Gonschinska schaut auf das Jetzt, und das Jetzt bereitet dem Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) überraschend viel Freude. Am Mittwoch veröffentlichte der DLV, dass er 66 Athleten bei den Weltmeisterschaften in Peking in den Wettbewerb schicken wird; darunter die Titelverteidiger David Storl (Leipzig/Kugelstoßen), Christina Obergföll (Offenburg/Speerwurf) und den wiedererstarkten Raphael Holzdeppe (Zweibrücken/Stabhochsprung). Es ist ein ordentliches Aufgebot, in dem auch viele junge Athleten einen Platz gefunden haben, die 18 Jahre alte Sprinterin Gina Lückenkämper aus Soest zum Beispiel. Sie basteln im DLV derzeit ja an einer Mannschaft für die kommenden Jahre, und dafür, findet Gonschinska, sieht das Jetzt schon ziemlich gut aus.

Der DLV nimmt nur Athleten mit einer "erweiterten Finalchance" mit, erklärt der Cheftrainer

Es gab nach den nationalen Meisterschaften am Wochenende in Nürnberg ein paar Härtefälle, die haben sie im DLV plausibel verhandelt. Diskuswerfer Robert Harting steht zum Beispiel auf der Meldeliste. Als Weltmeister von 2013 ist er automatisch für Peking qualifiziert, er darf in den kommenden Tagen selbst entscheiden, ob er sich nach seinem Kreuzbandriss in den Wettbewerb traut. In der aktuellen Saison war er noch bei keinem Wettkampf dabei. Es ist auch durchaus vertretbar, dass Anna Rüh nicht mitfährt. Die 22 Jahre alte Diskuswerferin hatte zu Saisonbeginn die bis heute gültige deutsche Jahresbestleistung produziert (66,14 Meter), Rühs Leistungen sackten anschließend allerdings ein wenig ab, während die nationale Konkurrenz immer besser wurde. Ein paar Unebenheiten lassen sich im Aufgebot dann allerdings doch ausmachen, sie stehen im Kleingedruckten, es geht im Grunde um: eine Hundertstelsekunde.

German Championships In Athletics - Day 2

Im Wartestand: Robert Harting will kurzfristig darüber befinden, ob er bei der WM in Peking antreten wird.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Die meisten Leichtathleten erhalten ihre Zulassungspapiere für die diesjährige WM (22. - 30. August), indem sie die Leistung des Welt-Leichtathletikverbandes erfüllen, die IAAF-Norm. Der DLV bastelt sich seit einer Weile allerdings seine eigenen, meist anspruchsvolleren Normen. Das führt immer wieder zu Härtefällen. Diesmal traf es den 1500-Meter-Läufer Florian Orth von der LG Telis Finanz Regensburg. Orth hat in dieser Saison 3:36,05 Minuten vorgelegt, er ist damit Inhaber der IAAF-Norm (3:36,20), nicht aber der nationalen Marke (3:35,50). "Warum muss ich als deutscher Läufer sieben Zehntel schneller laufen als der Nachbar aus Österreich, der auch in Peking startet?", fragte Orth in Nürnberg. Weil der DLV nur Athleten mitnehme, denen man eine "erweiterte Finalchance" zutraue, teilt Gonschinska mit. Man könnte dem entgegenhalten, dass der Verband damit auch pauschal urteilt, eine bloße WM-Teilnahme sei für einen Athleten nur bedingt förderlich. Ermutigt man so Athleten, gerade den Nachwuchs, der sich im Jugendalter überlegt, ob er eine Leichtathletik-Karriere in Angriff nimmt oder doch lieber etwas anderes macht?

DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen verweist auf Nachfrage auf andere Möglichkeiten, um sich zunächst einmal fortzubilden, auf Europameisterschaften, auf Jugend-WMs und -EMs; überhaupt nominiere der DLV bei Weltmeisterschaften schon liberaler als andere Fachverbände. Allerdings ist da noch die Sache mit dem Hürdensprinter Alexander John. Der hat die IAAF-Norm (13,47 Sekunden) erfüllt, die Norm des DLV (13,45) aber um eine Hundertstel verfehlt. John erhielt am Mittwoch seine Zulassung für Peking. "Wir haben immer wieder Ausnahmen gemacht", sagt Kurschilgen, John fehle eben nur eine Hundertstel, "ich denke, das kann jeder nachvollziehen". Bei Orth gebe es eine Differenz von einer halben Sekunde, Kurschilgen findet: "Wir hatten keine andere Möglichkeit, als so zu entscheiden." Dass John ein ehemaliger Athlet des früheren Hürdentrainers Gonschinskas sei, habe überhaupt keine Rolle gespielt. "Er hat sich aus der Nominierung der Hürdenläufer komplett rausgehalten", sagt Kurschilgen - um den Vorwurf der Befangenheit, der ihm in der Vergangenheit schon mal gemacht wurde, gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Das DLV-Aufgebot für Peking

Männer

100 m: Reus (Wattenscheid), Knipphals (Wolfsburg). - 200 m: Reus, Erewa (Wattenscheid). - 4x100 m: Reus, Knipphals, Jakubczyk (Berlin), Hering (Leipzig), Kosenkow (Wattenscheid), Menga (Leverkusen). - 800 m: Schembera (Leverkusen). - 5000 m: Ringer (Friedrichshafen). - 10 000 m: Gabius (Hamburg). - 110 m Hürden: Traber (Stuttgart), Bühler (Offenburg), John (Leipzig). - 20 km Gehen: Linke, Brembach, Pohle (alle Potsdam). - 50 km Gehen: Dohmann (Baden-Baden). - Hoch: Onnen (Hannover), Przybylko (Leverkusen). - Stabhoch: Holzdeppe (Zweibrücken), Scherbarth, Paech. - Weit: Camara (alle Leverkusen), Heinle (Tübingen). - Kugel: Storl (Leipzig). - Diskuswurf: R. Harting, C. Harting (beide Berlin), Wierig (Magdeburg). - Speer: Röhler (Jena), Vetter (Saarbrücken), Hofmann (Mannheim), Hamannn (Dresden). - Zehnkampf: Kazmirek (Wied), Schrader (Dreieich), Freimuth (Halle).

Frauen

100 m: Sailer (Mannheim), Haase (Thum), Lückenkemper (Soest). - 4x100 m: Sailer, Haase, Lückenkemper, Freese (Brinkum), Kwadwo, Burghardt (beide Mannheim). - 800 m: Kohlmann (Karlstadt-Gambach-Lohr), Hering (München). - 100 m Hürden: Roleder (Leipzig). - 3000 m Hindernis: Krause (Frankfurt). - Hochsprung: Jungfleisch (Tübingen). - Stabhochsprung: Spiegelburg (Leverkusen), Ryzih (Ludwigshafen), Strutz (Schwerin). - Weitsprung: Malkus (Münster), Moguenara (Wattenscheid), Mihambo (Kurpfalz). - Dreisprung: Gierisch (Chemnitz). - Kugelstoß: Schwanitz (Erzgebirge). - Diskuswurf: Fischer (Berlin), Müller (Leipzig), Craft (Mannheim). - Hammerwurf: Heidler (Frankfurt), Klaas (Frankfurt). - Speerwurf: Obergföll (Offenburg), Molitor, Stahl (beide Leverkusen), Hussong (Zweibrücken). - Siebenkampf: Schäfer (Friedrichstein), Rath (Frankfurt), Oeser (Leverkusen).

Orth sagte in Nürnberg übrigens, er werde jede Entscheidung akzeptieren. "Peking war nicht das Primärziel", sagte er, die Saison des 26-Jährigen ist auch so ganz beeindruckend: Nach 16 mündlichen Prüfungen und vier Wochen Praxis in der Klinik hat er seit vergangener Woche sein Examen der Zahnmedizin erfolgreich abgeschlossen.

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