Leichtathletik:Eine Entschuldigung ans chinesische Volk

Aus chinesischer Sicht sollte er der Star und das Gesicht der Spiele werden, doch vor seinem ersten Auftritt gibt Hürdensprinter Liu Xiang verletzt auf.

Thomas Hahn

Irgendetwas stimmte nicht. Liu Xiang hatte seinen Oberkörper auf einen der roten Klötze hinter den Startblocks gestützt. Er wirkte erschöpft, noch bevor sein Vorlauf über die 110 Meter Hürden begonnen hatte. Dann machte er sich bereit für den Start. Humpelte er?

Leichtathletik: Ein Schock für China: Liu Xiang gibt verletzt auf.

Ein Schock für China: Liu Xiang gibt verletzt auf.

(Foto: Foto: dpa)

Er brachte sich in Position, er verzog das Gesicht, aber es war nicht klar, ob das nur ein Zeichen seiner Entschlossenheit war oder tatsächlich ein Ausruck von Schmerz. Dann knallte der Startschuss, Liu Xiang schnellte aus den Blocks, und blieb gleich stehen. Fehlstart, aber im zweiten Moment sahen fast 90.000 Menschen im Vogelnest von Peking erschrocken, wie sich Liu Xiang von der Startlinie abwandte und in den Katakomben verschwand.

Die Olympia-Mission des chinesischen Nationalidols Liu Xiang endete in Peking, noch bevor sie richtig beginnen konnte. Eine Achillessehnen-Verletzung, die schon am Samstag im Training aufgebrochen war, zwang ihn zur Aufgabe, wie der chinesische Cheftrainer Feng Shuyong später erklärte. Er sagte: "Liu Xiang würde nicht aussteigen, wenn die Schmerzen nicht unerträglich wären."

Liu Xiang aus Shanghai, 25, Weltmeister, Olympiasieger, Bestzeit 12,88 Sekunden, ist das Gesicht dieser Spiele gewesen. Auf keinen Wettkampf haben die Chinesen so sehr hingefiebert, wie auf das Hürdensprint-Finale am Donnerstag, bei dem Liu Xiang gegen den kubanischen Weltrekordler Dayron Robles (12,87 Sekunden) sein Gold verteidigen sollte. Sie verbinden mit Liu Xiang die neue ungeahnte Stärke ihres Landes.

Als er vor vier Jahren bei den olympischen Spielen in Athen zum Sieg stürmte, war das für sie wie das Zeichen eines Aufbruchs. Über 100 Jahre hatten Amerikaner und Europäer den Hürdensprint beherrscht, wegen ihrer körperlichen Voraussetzungen galt es als unmöglich, dass ein Asiate ein Sprintereignis der Leichtathletik gewinnen konnte. Liu Xiang räumte mit diesem Komplex auf, er dominierte auf einmal einen Bereich, in dem Chinesen immer schlecht waren und lud sehr viele seiner 1,3 Milliarden Landsleute mit einem neuen Selbstbewusstsein auf. Und Liu Xiang sollte weiter gewinnen, das war der Wunsch der meisten Chinesen. Es gibt Umfragen, wonach den Chinesen kein Gold-Gewinn bei den Spiele so wichtig wäre wie der Liu Xiangs im Hürdensprint.

Vor diesem Hintergrund war es eine ziemlich natürliche Reaktion, dass ein Aufschrei des Entsetzens durchs Stadion ging, als der Stadionsprecher die Botschaft verkündete, Liu Xiang könne wegen Verletzung nicht antreten. Ein enttäuschtes Raunen waberte durchs weite Rund, manche Chinesen brachen in Tränen aus, binnen weniger Minuten leerten sich die Tribünen, und unter Medienschaffenden brach große Hektik aus, während man auf den Fernsehbildern aus den Katakomben Liu Xiang von einigen Helfern umzingelt auf dem Boden sitzen und sein Bein bearbeiten sah.

Wenig später erklärte Liu Xiangs Trainer Sun Haiping auf einer vielbeachteten Pressekonferenz unter Tränen, dass drei Ärzte sich um seinen wichtigsten Schüler bemüht hätte, mit Sprays und Eis, aber keiner ihm seine Schmerzen an der Ferse seines rechten Beins, seines Sprungbeins, hätten nehmen können.

Es hatte schon lange Gerüchte über Liu Xiangs Gesundheit gegeben. Ende Mai stornierte er kurzfristig seinen Start bei einem Meeting in New York - wegen Muskelproblemen am Oberschenkel. Erst kürzlich sagte Sun Haiping auf Liu Xiangs Internetseite, dass der Athlet Probleme habe. Feng Shuyong aber erklärte auf der Pressekonferenz zu Liu Xiangs Ausstieg, dass Liu Xiangs Ärzte seine muskulären Probleme bald im Griff hatten und er zwischenzeitlich ungestört trainieren konnte. "Bis Samstag war er in großartiger Form", sagte Feng Shuyong.

Dann meldeten sich die Überlastungserscheinungen an seiner Ferse wieder, Liu Xiang unterzog sich einer Magnetresonanz-Tomographie, um das Gewebe am verletzten Fuß zu untersuchen. "Nachdem Experten und Ärzte draufgeschaut hatte, ging die Verletzung zurück und er war zuversichtlich. Heute Morgen bei seinen Übungen auf dem Aufwärmplatz spürte er, wie der Schmerz wieder stärker wurde", sagte Feng Shuyong.

Trotzdem ging Liu Xiang ins Stadion, aber da musste ihm schon klar sein, dass er das Rennen nicht würde bestreiten können. "Er war sehr entschlossen zu laufen", sagte Fens Shuyong in einer kleinen Rede auf Liu Xiang, die wie ein Nachruf klang, "er arbeitete so gut er konnte, sogar als er den Scherz spürte, zu hundert Prozent." Nächstes Jahr werde Liu Xiang auf die Bahn zurückkehren. Und Sun Haiping entschuldigte sich beim chinesischen Volk.

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