Leichtathletik:Der Anti-Bolt

16th IAAF World Athletics Championships London 2017 - Day Two

Bloß die Ruhe bewahren: Der Südafrikaner Wayde van Niekerk, 25, trägt bei der WM in London die Hoffnungen seines Landes - und seines Sports.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)
  • Wayde van Niekerk ist Weltrekordler, Olympiasieger und Weltmeister über die 400 Meter.
  • In der Leichtathletik hoffen sie, dass der Südafrikaner die Lücke des scheidenden Entertainers Usain Bolt schließen kann.
  • Doch der stille 25-Jährige ist der Gegenentwurf zum lauten Jamaikaner.

Von Joachim Mölter, London

Vor einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft, wie sie am Sonntag in London zu Ende geht, präsentieren Sponsoren und nationale Verbände gerne ihre Athleten, ein bisschen Werbung muss ja auch sein. Bei Südafrikas Team ist in diesem Jahr besonders viel Andrang gewesen; er war so groß, dass die Damen am Einlass ihre Gästelisten irgendwann beiseite legten und jeden reinließen, um keinen Tumult vor der Tür zu riskieren. Der Nebenraum, der in einem Café in Stadionnähe reserviert war, quoll über vor Leuten, die wenigen Stühle waren schnell besetzt, selbst auf den Stehplätzen wurde es eng.

Alle wollten das künftige Gesicht der Welt-Leichtathletik sehen, den Mann, der den Supersprinter Usain Bolt als Posterboy ersetzen soll. Dürfen wir vorstellen: Wayde van Niekerk, Weltmeister, Weltrekordler, Olympiasieger über 400 Meter und seit diesem Jahr der einzige Mensch, der die 100 Meter in weniger als zehn Sekunden gerannt ist (9,94), die 200 Meter in weniger als zwanzig (19,84), die 400 Meter in weniger als vierundvierzig (43,03). Nicht einmal Usain Bolt hat das gekonnt. In London wollte der 25 Jahre alte van Niekerk das Double über 200 und 400 Meter angehen, ebenfalls eine außergewöhnliche Leistung.

Ein Moderator trat also auf, um das künftige Gesicht der Leichtathletik anzukündigen. Das erste Mikrofon, das er in der Hand hielt, funktionierte nicht richtig: Nur jedes zweite Wort war zu verstehen. Also: Nur ... zweite ... war ... verstehen. Beim nächsten Mikrofon war es noch schlimmer: Da ... dann ... je ... zwei ... Sil ... zu ... Bei allen weiteren Versuchen ging gar nichts mehr. Damit auch die Zuhörer in den hinteren Reihen etwas hörten, brüllte der Moderator van Niekerk schließlich seine Fragen ins Gesicht, und der antwortete so ruhig, wie es eben seine Art ist. Wer es bis dahin nicht gewusst hatte, wusste es jetzt: Der Mann ist kein Lautsprecher.

Falls Niekerk also das neue Gesicht der Welt-Leichtathletik werden sollte, muss sich diese Welt auf neue Töne einstellen. Leisere, bescheidenere, ernstere. Und sie muss sich darauf einstellen, dass ihre prominenteste Figur nicht alles gewinnt. Dass er keine Überfigur ist wie Usain Bolt, sondern ein schlagbarer, verletzlicher Mensch. Am Donnerstagabend rannte Wayde van Niekerk im 200-Meter-Finale, es war der Versuch, ein Double zu vollenden, das bislang nur der Amerikaner Michael Johnson geschafft hat - eben die 200 und die 400 Meter bei ein und denselben Titelkämpfen zu gewinnen. Johnson tat das bei der WM 1995 in Göteborg und ein Jahr später bei Olympia in Atlanta. Van Niekerk hatte in London bereits die 400 Meter gewonnen, am Dienstag in 43,98 Sekunden. Über 200 Meter aber wurde er Zweiter hinter dem aus Aserbaidschan stammenden Türken Ramil Gulijew (20,09 Sekunden), besiegt um nur zwei Hundertstelsekunden. Später fand van Niekerk trotzdem: "Ich habe erfolgreich gekämpft. Silber ist immer noch ein wunderschöner Fang."

Über 200 Meter muss er sich als Zweiter geschlagen geben

Er sprach über die Anstrengung der vielen Rennen, jeweils Vorlauf, Halbfinale, Endlauf über 400 und 200 Meter; über das kühle Wetter, das ihn ausgezehrt hatte; das "massive Hoch" nach der Titelverteidigung über 400 Meter, das ihn Schlaf und Erholung gekostet hatte für die folgenden 200-Meter-Rennen. Er erinnerte daran, dass er zum ersten Mal gegen ein 200-Meter-Feld von solcher Qualität angetreten war. "Ich wusste, dass es kein Spaziergang wird", sagte er immer wieder. Bei diesem Satz musste man an Usain Bolt denken, wie unwirklich er 2008 in Peking mit offenem Schuhbändel zu Olympia-Gold und Weltrekord über 100 Meter spaziert war. Oder an Michael Johnson, auch mal ein Gesicht der Leichtathletik, wie er 1999 nach seinem damaligen 400-Meter-Weltrekord (43,18) mühelos eine Ehrenrunde in ähnlichem Tempo hintendran gehängt hatte.

Van Niekerk wird von einer außergewöhnlichen Frau trainiert

Wayde van Niekerk muss immer erst mal mächtig schnaufen, wenn er die Stadionrunde hinter sich hat. Nächste Saison will er mal tief Luft holen und sich eher auf die 100 und 200 Meter konzentrieren; die halbe Stadionrunde ist sowieso seine Lieblingsstrecke. Er freute sich dennoch glaubhaft über den zweiten Platz am Donnerstag; auf der Ehrenrunde war zu sehen, wie erleichtert er war, dem ganzen Druck standgehalten zu haben: Zwischen all den Selfies, die er machte, und all den Händen, die er abklatschte, sank er auf die Knie und vergrub sein Gesicht in der südafrikanischen Fahne. Als er dann bei der BBC zum ersten TV-Interview vorbeikam, fing er an zu weinen. "Es war eine schwere Woche für mich", gab er zu.

Nicht nur wegen der körperlichen Anstrengung. Es hatte rund ums 400-Meter-Finale eine Kontroverse gegeben, weil Isaac Makwala aus Botswana nicht mitrennen durfte. Der 30-Jährige war von Funktionären des Weltverbandes IAAF in Quarantäne verfrachtet worden, weil er - wie viele andere Athleten - Symptome eines Norovirus aufwies. Makwala hatte eine Verschwörungstheorie aufgeworfen: Dass die IAAF ihn, van Niekerks stärksten Herausforderer, aus dem Verkehr ziehen wollte, um ihrem künftigen Vorzeigeathleten den Sieg zu sichern. "Das hat mich geärgert", sagte van Niekerk: "Ich glaube, ich habe etwas mehr Respekt verdient." Der bei einer Größe von 1,83 Meter nur 72 Kilo schwere Athlet verkörpert ganz offensichtlich einen anderen Sprintertyp als die muskelbepackten Machos à la Bolt: Er ist nicht bloß feingliedriger, sondern auch feinfühliger.

Mag sein, dass das davon kommt, dass er von einer außergewöhnlichen Frau trainiert wird, noch so eine Rarität im Männer-Sprint. "Ihr kennt alle meinen Superstar-Coach?", fragte er in London. Es ist eine rhetorische Frage, seit die New York Times bei Olympia in Rio eine große Geschichte daraus machte, dass seine Trainerin nicht zu ihm durchgelassen wurde, weil sie niemand kannte. Dürfen wir vorstellen: Anna Sofia Botha, "eine Urgroßmutter, die als Barbara Bushs kleine Schwester durchgehen könnte", wie die Times sie in Anspielung an die frühere US-Präsidentengattin beschrieb.

"Ich versuche nicht, in die Fußstapfen von Bolt zu treten"

Drei Kinder, fünf Enkel, fünf Urenkel, weiße Haare mit zementierten Wellen, Brille, 75 Jahre und damit dreimal so alt wie van Niekerk. Als "Tannie Ans" ist sie in Südafrika bekannt, Tante Annie. "Sie sieht uns nicht als Athleten, sie sieht uns als ihre Kinder", sagt van Niekerk, der seit fünf Jahren von ihr angeleitet wird. Anna Sofia Botha ist natürlich um einen Vergleich von Bolt und van Niekerk gebeten worden in diesen WM-Tagen. Sie mag das nicht. Das seien unterschiedliche Typen, nicht zu vergleichen, schon allein wegen ihrer bevorzugten Laufstrecken, hat sie geantwortet: "Ich hätte gern, dass Wayde auf seine eigene Art zu einer Ikone wird."

Die gute Frau spricht mindestens so leise und bescheiden wie van Niekerk, und der denkt offenbar genauso wie Botha. "Ich versuche nicht, in die Fußstapfen von Usain Bolt zu treten oder in die von Michael Johnson", sagte er jedenfalls nach getaner WM-Arbeit am Donnerstag: "Ich glaube, ich habe genug Leistungen abgeliefert, um mein eigenes Image aufzubauen, meine eigene Marke." Von dem Spaßsprinter Usain Bolt würde sich diese Marke gewaltig unterscheiden. Es wäre allerdings auch nicht verkehrt, wenn van Niekerk gar keine Marke werden würde, sondern der Mensch bliebe, der er ist, mit all seinen Schwächen. Dem die Anstrengung seiner Rennen ins Gesicht geschrieben ist.

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