Leichtathletik:Boston-Marathon - "Da läuft eine Tussi mit"

Kathy Switzer Roughed Up By Jock Semple In The Boston Marathon

In Bedrängnis: Während Renndirektor John "Jock" Semple (l.) versucht, Kathrine Switzer am Weiterlaufen zu hindern, greift ihr Freund Tom Miller - ein Hammerwerfer - beherzt ein.

(Foto: Paul J. Connell/The Boston Globe via Getty Images)

Eine Frau beim Marathon? War in den Sechzigerjahren noch verboten. Kathrine Switzer traute sich 1967 in Boston viel - und half so, die Sportart zu verändern.

Von Johannes Knuth

Das Wichtigste war, sagt Kathrine Switzer, dass sie weiterlief. Sie wäre damals ja am liebsten im Boden versunken, weil zwei Funktionäre auf sie zustürmten, sie von der Strecke drängten. Weil Switzer es gewagt hatte, an diesem kalten Aprilmorgen beim Marathon in Boston mitzulaufen, als Frau. "Ich war beschämt von diesem Moment und wütend", erinnert sich Switzer. "Aber ich wollte unbedingt das Rennen beenden."

Also rannte Kathrine Switzer einfach weiter, hinein in ein neues Leben.

Am kommenden Montag bricht in Boston die Jahreszeit der großen Frühjahrsmarathons an. Montag ist Patriots' Day in New England, aber sie nennen den Tag in Boston längst Marathon Monday. Fast jede Großstadt feiert mittlerweile einen inoffiziellen Marathon-Feiertag, London, Paris, Berlin, New York. Rund 30 000 Starter werden es diesmal in Boston sein, bei der 120. Ausgabe. Profis, die sich um Hunderttausende Euro Preisgeld bewerben, Breitensportler, die einen Marathon auf ihrer To-Do-Liste abhaken. Um sie herum ist eine Industrie gewachsen aus bunter Kleidung, Uhren, die Puls und Schritt vermessen, aus Magazinen, die über Kleidung, Uhren und Trainingspläne berichten, aus Sponsoren, die Millionen in die Laufindustrie pumpen und noch mehr hinaustragen. Frauen stellen die Hälfte vieler Starterfelder.

Welch scharfer Kontrast zum Frühjahr 1967, vor knapp 50 Jahren. 740 Läufer krochen am 19. April in Hopkinton an die Startlinie, viele versteckten sich in dicken Pullis und langen Turnhosen, es war ein bitterkalter Tag in Boston. Berufsläufer gab es noch nicht, wer das Ziel erreichte, wurde mit einer Schale Rinderbrühe belohnt. Ach ja, Frauen durften nicht mitlaufen.

Ein Journalist verpetzt Switzer beim Rennchef

Switzer war damals 20, Studentin an der Universität in Syracuse, New York. Ihr Vater, ein ehemaliger Soldat, war nach dem Zweiten Weltkrieg in Amberg in der Oberpfalz stationiert (wo Switzer zur Welt kam), er hatte sie zum Laufen gebracht. Später, an der Uni, probierte Switzer Crosslauf, bei Arnie Briggs, einem Läufer und Trainer. Er ermutigte Switzer, sich für den Marathon anzumelden. Sie ging zu einem Arzt, denn wer mitlaufen wollte, musste nachweisen, dass er gesund war. "Und dann sagt mir der Doktor: Kathrine, du bist gesund, aber du solltest nicht laufen. Du wirst sonst niemals Kinder kriegen", erinnert sich Switzer. "Wie bitte?", fragte sie. "Ja", sagte der Doktor, "du wirst deine inneren Organe beschädigen."

Switzer lachte. Sie war zuvor knapp 50 Kilometer im Training gelaufen, am Stück. Und 1966, im Jahr davor, hatte Roberta Gibb den Boston Marathon geschafft, als erste Frau, wenn auch inoffiziell - sie hatte sich in den Büschen versteckt und kurz nach dem Startschuss ans Feld gehängt. Switzer bezahlte jedenfalls zwei Dollar Startgebühr, sie füllte den Anmeldebogen aus, nur mit ihren Initialen, "KV Switzer", sicher ist sicher. "Ich wollte eigentlich niemandem etwas beweisen", sagt sie. "Ich war nur ein Mädchen, das laufen wollte."

Frauen durften damals nicht bei Marathons antreten, es war ein ungeschriebenes Gesetz. In den Sechzigern wucherten die Vorurteile, Frauen, hieß es, seien zu schwach, Sport lasse ihnen Brusthaare wachsen, schädige die Gebärmutter. Switzer verstand das nicht, aber sie spürte die Abneigung, die ihr entgegenschwappte. Sie hatte Angst, als sie sich der Startlinie näherte, an diesem Aprilmorgen 1967. Will Cloney und Jock Semple, die Rennchefs, schritten durch die Reihen, sie prüften, ob jeder eine Startnummer trug. Switzer war in eine weite, graue Trainingshose und in ein graues Sweatshirt geschlüpft, vermutlich blieb sie deshalb unentdeckt, erst einmal. Sie heftete sich ihre Startnummer 261 an den Pulli. Dann lief sie los.

Sorge um die Reinheit des Rennens

Nach drei Kilometern hatten sie den Vorort Ashland erreicht, Switzer, ihr Trainer Briggs und Tom Miller, Switzers Freund, ein Hammerwerfer. Der Bus mit Journalisten und Fotografen fuhr vorbei, unterwegs zur Führungsgruppe, als ein Journalist Switzers lange, schwarze Haare erspähte, die im Regen hin- und herwippten. "Hey Jock", rief er Richtung Renndirektor, "da läuft eine Tussi mit!"

Der Bus hielt abrupt an. Will Cloney, Mantel, Filzhut, packte Switzer am Arm, sie riss sich los. Dann probierte es John "Jock" Semple, 63, kerniges Gemüt samt kernigem schottischem Akzent, der dem Marathon als Co-Renndirektor vorstand. "Verschwinde zum Teufel noch mal aus meinem Rennen und gib mir deine Nummer!", schrie Semple, er hätte Switzer wohl in Ruhe gelassen, hätte sie es nicht gewagt, sich eine Startnummer zu besorgen. Das befleckte die Reinheit seines Rennens. Semple hatte sich fast bis zu Switzer durchgeboxt, als ihn Switzers Freund mit einem fachmännisch getimten Rempler Richtung Straßengraben warf.

Semple kroch zurück in den Bus, dort war es totenstill. Switzer war kurz gestolpert, hatte aber wieder auf die Beine gefunden. Sie war aufgewühlt, aber sie lief weiter. "Ich habe damals gelernt, dass beim Laufen irgendwann jede Wut verpufft", sagt sie, und bei Kilometer 32, am Heartbreak Hill, "habe ich dem alten, mürrischen Funktionär vergeben". Sie fragte sich, warum so wenige Frauen in dieses Rennen gefunden hatten, und sie begriff, dass viele verängstigt waren. "Als ich im Ziel war, nach 4:20 Stunden, hatte ich einen neuen Lebensplan, der wie ausgerollt vor mir lag", sagt Switzer: "Werde ein besserer Athlet. Und schaffe Möglichkeiten für Frauen, das gleiche zu erreichen."

1970 erste Marathon-Meisterschaft für Frauen

Die Organisatoren disqualifizierten Switzer und ihren Freund, aber da waren die Fotos von ihrem Rempler längst im Umlauf, die Risse in den Damm gezogen, der die Gleichberechtigung zurückhielt. 1970 veranstalteten sie in Amerika die ersten Marathon-Meisterschaft für Frauen. 1972 öffnete Jock Semple seinen Lauf für Frauen, Switzer wurde Dritte; sie versöhnten sich bald. Am 23. Juni 1972 unterschrieb Präsident Richard Nixon den Verfassungs-Zusatz "Title IX", der Frauen gerechtere Behandlung in Bildung und Sport zusicherte.

"Frauen durften lange nicht arbeiten, keine Universitäten besuchen, wir wurden nicht zu Ärzten oder Juristen ausgebildet, und wer es doch wagte, wurde trotzdem Hausfrau", erinnert sich Switzer. "Das war so frustrierend, weil einem ständig gesagt wurde, dass man nicht gut genug ist." 1984 liefen die Frauen erstmals einen olympischen Marathon. Der Damm war gebrochen, und erst vor wenigen Tagen entschied der Leichtathletik-Weltverband, die 50 Kilometer Gehen auch für Frauen zu öffnen, die letzte Bastion der Männer.

Wenn man Switzer heute anruft, spürt man, wie viel Leidenschaft in jedem ihrer Worte liegt. Sie ist Journalistin, in diesem Jahr moderiert sie zum 40. Mal das Rennen fürs Fernsehen, aber eigentlich ist sie von Beruf Kathrine Switzer, die das Rennen, den Sport und ein bisschen auch die Gesellschaft veränderte. Sie hat bezeugt, wie Frauen über das Laufen zu sich fanden, "Frauen im Sport", sagt sie, "ist eine der größten, kulturellen Revolutionen des vergangenen Jahrtausends. Es waren vor allem Sportlerinnen, die zeigten, dass Frauen gut waren, stark und schnell."

Das Foto von Switzers Zusammenstoß erlebt eine Renaissance

Switzer gründete diverse Läufe für Frauen, aus dem ersten in London, den Switzer 1980 initiierte, wuchs der London Marathon. Viele Strecken folgten, auf denen sich heute Zehntausende durch die Städte schieben, mit ihrer bunten Ausrüstung. "Das ist eine sehr weibliche Bewegung", sagt Switzer. "Es geht nicht darum, schneller zu werden, sondern darum, es zu schaffen."

Switzer ist mittlerweile 69, 2017 jährt sich ihr Boston-Lauf zum 50. Mal. Sie wird noch einmal dort laufen, sie werden den Rempler nachspielen, "er steht bis heute dafür, dass Frauen sich nicht wegdrängen lassen", sagt sie. Sie hat Bücher darüber geschrieben, und doch holt sie dieser Moment immer wieder ein. Vor drei Jahren fing es an, dass ihr Leute aus aller Welt digitale Post schickten, aus Japan, Paraguay, Kanada. Sie hatten Switzers Foto im Internet entdeckt und beschlossen, selbst Marathon zu laufen.

Das Foto erlebt gerade eine digitale Renaissance, es ist zu einem Energiebrunnen geworden, aus dem eine große Kraft quillt: "Jedem von uns wurde schon einmal gesagt: Du schaffst das nicht", sagt Switzer, "du bist zu fett, zu langsam, zu hässlich. Und dann machst du es trotzdem. Das gibt einem so viel Kraft." Sie hat vor kurzem eine Stiftung gegründet, 261fearless, Frauen können sich demnächst in einem gesicherten Online-Portal übers Laufen austauschen, Frauen, die in ihrer Gesellschaft nicht einmal ohne Begleitung in der Öffentlichkeit zeigen dürfen. "Viele Frauen leben noch immer in Angst. Frauen in Afghanistan oder Saudi-Arabien", sagt Switzer.

Sie gibt die Hoffnung nicht auf, sie hat ja selbst erlebt, wie das funktioniert: "Der Drang nach Freiheit wächst im Herzen." Vor wenigen Tagen machte die Geschichte von Mahsa Torabi die Runde, sie war den ersten internationalen Marathon im Iran gelaufen, als erste iranische Frau.

"Ich denke oft, dass wir so weit gekommen sind", sagt Switzer. "Und doch stecken wir in diesem Rennen der Gleichberechtigung noch immer bei Kilometer eins fest."

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