Leichtathletik:Aus dem Nichts

Fünf Medaillen innerhalb eines Jahres: Die Trainingsgruppe um die Europameister Kristin Gierisch und Max Heß hat den totgesagten Dreisprung in Deutschland belebt.

Von Joachim Mölter

Am kommenden Montag fliegen die Leichtathleten aus Chemnitz in ihr erstes Trainingslager für die anstehende Freiluft-Saison, für 16 Tage geht es in die Sonne nach Portugal. Der Trainer Harry Marusch hat den Abflug in diesem Jahr extra nach hinten verschoben, angesichts der Erfahrungen, die er im vorigen Winter gemacht hat. Da musste er mit seinen Dreispringern Kristin Gierisch und Max Heß das Trainingslager des Vereins vorzeitig verlassen - die beiden hatten sich wider Erwarten für die Hallen-WM Anfang März in Portland/USA qualifiziert. Damals hatte Marusch gesagt: "Der Dreisprung in Deutschland ist nicht so gut, dass man es sich leisten kann, eine WM auszulassen."

2017 European Athletics Indoor Championships - Day Three

In großen Schritten Richtung Weltspitze: Max Heß gewann bei der Hallen-EM Bronze.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Nun ist ein Jahr vergangen, und der fast schon totgesagte Dreisprung in Deutschland steht so lebendig da wie lange nicht mehr. Innerhalb eines Jahres haben Maruschs Athleten fünf Medaillen von internationalen Meisterschaften mit nach Hause gebracht: zwei silberne aus Portland, eine goldene von der Freiluft-EM aus Amsterdam durch Heß, und nun am Wochenende von der Hallen-EM aus Belgrad eine weitere goldene durch Gierisch sowie noch eine bronzene durch Heß. Letzteres war dann für einige Beobachter sogar schon eine Enttäuschung - schließlich hatte der 20-Jährige mit 17,52 Meter in der Qualifikation einen deutschen Rekord vorgelegt, an den er dann im Finale nicht mehr ganz herankam (17,12). "Im ersten Moment war es ein komisches Gefühl", räumt Marusch ein, "fünfzig Prozent Freude, fünfzig Prozent Enttäuschung." Die Freude hat schnell die Überhand gewonnen. Gerade wegen Gierischs Gold, das sie sich nach gesundheitlichen Problemen mit letzter Kraft geholt hatte: einem Satz auf 14,37 Meter. "Ich hätte nicht mehr kontern können", sagte sie angesichts der nahe rückenden Konkurrenz.

Leichtathletik EAA Hallen Europameisterschaften 2017 European athletics indoor Championships 2017

Kristin Gierisch holte Gold bei der Hallen-WM.

(Foto: imago/Chai v.d. Laage)

Die wichtigste Erkenntnis ihres Trainers Harry Marusch aber war: "Wir haben jetzt den Standard, dass wir international mitspringen können."

Und das wiederum ist ein prima Beispiel dafür, dass es sich durchaus lohnen kann, in Disziplinen zu investieren, die gerade nicht en vogue sind, dort Schwächephasen durchzuhalten, Geduld aufzubringen und ein langfristiges Ziel anzupeilen. Wäre die im Dezember verabschiedete Spitzensportreform des Deutschen Olympischen Sportbundes mit ihrer Fokussierung auf medaillenträchtige Sportarten schon früher in Kraft getreten, wären die jüngsten Erfolge der Chemnitzer Dreispringer-Gruppe jedenfalls nur noch schwer möglich geworden. "Wir haben eine funktionierende Trainingsgruppe", sagt Marusch, "aber wir kommen aus dem Nichts."

Das EM-Gold von Gierisch ist der erste Titel überhaupt für eine deutsche Dreispringerin; bei den Männern beendete Heß ein anderthalb Jahrzehnte dauernde Flaute. Der letzte Medaillengewinner vor ihm war Charles Friedek mit WM-Gold 1999 und EM-Silber 2002. Friedek, 45, ist seit kurzem Bundestrainer, und Marusch schwärmt geradezu über die Zusammenarbeit. Auch das ist bemerkenswert: Im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) war es lange ja eher die Regel, dass Bundes- und Heimtrainer verschiedener Meinung waren, folglich in verschiedenen Richtungen an den Athleten zogen, was deren Vorwärtskommen erschwerte.

Marusch und Friedek liegen auf einer Linie, was ihre Philosophie angeht. "Speedorientiertes Springen" nennt Marusch das, mehr Sprint als Sprung. Einem Laien erklärt er es so: "Der erste Sprung", der sogenannte Hop, der in diesem Dreisatz vor dem Step und dem Jump kommt, "ist nur ein Überlaufen des Bretts, kein wirklicher Sprung." Die Weite werde durch Geschwindigkeit generiert, weniger durch Kraft. Das sei die moderne Art des Dreisprungs, zudem viel weniger verletzungsanfällig als der kraftorientierte Ansatz, der früher gepflegt wurde, erklärt Marusch. Wenn er damals so gesprungen wäre, wie es Max Heß heute tut, hat Friedek seinem Chemnitzer Trainer-Kollegen gesagt, dann wäre er mehr als 18 Meter weit gekommen. Seine Bestleistung hat er 1999 beim WM-Erfolg in Sevilla erreicht, 17,59 Meter.

Dazu fehlen Max Heß nur noch wenige Zentimeter, auch wenn seine Weite in Belgrad - wie die der anderen Springer auch - vom dortigen Schwingboden und dessen Katapult-Effekt begünstigt war. Aber der 20-Jährige hat sich einiges vorgenommen für diesen Sommer, deren Höhepunkt die Weltmeisterschaften im August in London sind. "Die sehe ich ein bisschen als Revanche für Rio", sagt Heß; bei Olympia schied er bereits in der Qualifikation aus. Nun sagt er: "Ich möchte mir beweisen, dass ich in einem Weltklasse-Feld mithalten kann, nicht nur in Europa." So weit ist es also schon gekommen mit dem Dreisprung in Deutschland.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: