Leichtathlet Herms:Hinter dem Rücken des Spitzensports

Die wechselhafte Karriere des verstorbenen 800-Meter-Läufers René Herms offenbart die Tücken der Spitzenleichtathletik.

Thomas Hahn

Für Stefanie Herms, die Witwe, für die Familie des verstorbenen Mittelstrecklers René Herms und für die engsten Freunde muss es am Montag auf dem Friedhof von Pirna wieder so gewesen sein, als gäbe es keine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Da waren nur Trauer und Schmerz, und die Ratlosigkeit, von welcher der Trauerredner sprach, ehe die Urne mit der Asche des toten Läufers vor 200 Trauergästen beigesetzt wurde. Denn so tief reicht kein wissenschaftlicher Befund, dass man wirklich begreifen könnte, dass ein Mann von 26 Jahren, der vor kurzem noch so vital wirkte, auf einmal nicht mehr da ist.

Leichtathlet Herms: René Herms schien wieder auf dem Weg zurück zur besseren Leistungen zu sein.

René Herms schien wieder auf dem Weg zurück zur besseren Leistungen zu sein.

(Foto: Foto: ddp)

Aber natürlich gibt es einen Befund: René Herms ist an den Folgen einer "beidseitigen, virusbedingten Herzmuskelentzündung" gestorben, das sagt der Obduktionsbericht, den die Staatsanwaltschaft Dresden am Freitag veröffentlicht hat. Welche Viren genau Herms' Herz so geschädigt haben, dass es am Abend des 9. Januar plötzlich aufhörte zu schlagen, ist demnach Spekulation. Sicher ist wohl immerhin, dass es ein Schicksalsschlag war, zu dem es keinen Schuldigen gibt.

Allenfalls kann man sich fragen, ob Spitzenathleten sich nicht routinemäßig noch genaueren Herzuntersuchungen unterziehen sollten, als das Herms beim Institut für Angewandte Trainingswissenschaften in Leipzig ohnehin schon tat, um möglichen Herzrhythmusstörungen besser auf den Grund gehen zu können. Und unklar ist, ob Herms im Kampf um seine Form nach Krankheiten manchmal nicht doch zu früh wieder ins Training einstieg oder Symptome überging.

Klagen über die kalte Leistungsgesellschaft

Die Tragödie rückt durchaus auch die Tücken des olympischen Leistungssports ins Bewusstsein, was vor allem daran liegt, dass Deutschlands früherer 800-Meter-Dominator René Herms nach zwei schwächeren Jahren mit seinen Finanzen zu kämpfen hatte und Stefanie Herms Schulden hinterlässt.

In der Sächsischen Zeitung hat sie dazu ein Interview gegeben und darin die kalte Leistungsgesellschaft beklagt: "Solange René gut gerannt ist, da war er der tolle Sportler. Als er aber in Schwierigkeiten steckte (...), da wurde ihm der Rücken gekehrt." Beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), den bei der Beerdigung am Montag nur Teammanager Siegfried Schonert vertrat, und bei Herms' Ausrüster Asics erregt sie damit natürlich Widerspruch. Und in der Tat ist die ganze Geschichte komplizierter.

"Ein Jahrhunderttalent"

2001 wurde René Herms mit 19 zum ersten Mal deutscher Meister bei den Senioren - und danach ging alles wie von allein. Er kam ins Nationalteam, nach dem Abitur 2003 in die Sportfördergruppe der Bundeswehr, und auch die Sportartikelfirma Asics sah in ihm eine gute Investition, sogar "ein Jahrhunderttalent", wie Matthias Kohls sagt, der Sponsoring-Leiter bei Asics.

Bis 2006 wurde Herms sechs Mal nacheinander Meister, dazu kamen bis 2007 sechs Hallen-Titel, ohne Probleme qualifizierte er sich für die Saisonhöhepunkte und preschte vor Olympia 2004 in einem Länderkampf zu seiner beachtlichen Bestzeit von 1:44,14 Minuten. Herms verdiente gut damals. Leichtathletik-Profis wie er haben mehrere Einnahmequellen: den monatlichen Sold der Sportfördergruppe, Grundgehalt und Leistungsprämien vom Ausrüster, Zahlungen vom Verein, Gagen von Veranstaltern. Das bringt keine Millionen, aber eine Summe, die Wohlstand bedeutet für einen jungen Mann. Und Herms war weder geizig, noch sparsam, noch ein sehr gewiefter Geldanleger.

Hinter dem Rücken des Spitzensports

Dann kam das Tief. 2006 scheiterte er bei der EM in Göteborg in der ersten Runde, es gab Streit mit Trainer Klaus Müller beim LC Asics Pirna über seine Trainingsmoral. Trennung, Trainerwechsel, Vereinswechsel zur LG Braunschweig. Vor allem Letzteres gefiel Klub- und Herms-Sponsor Asics nicht gut.

Herms bekam einen anderen Vertrag, weil "der Nutzen für uns nicht mehr der gleiche war wie in Pirna, wo der Firmenname bei seinen Starts mitkommuniziert wurde", sagt Kohls. Im Sommer 2007 wurde er nicht deutscher Meister, verpasste die WM-Qualifikation und verlor seinen Status als Sportsoldat. 2008 wurde er wieder nicht Meister, verpasste Olympia und verlor seinen B-Kader-Status. Es waren keine willkürlichen Härten. Herms lief schlicht langsamer als früher.

Asics ließ ihn nicht fallen

Hatten ihm alle den Rücken zugekehrt? Henning von Papen, DLV-Trainer für die Mittelstrecke, kann dazu eine Geschichte erzählen. Herms rief ihn zuletzt aus dem Trainingslager in Kienbaum an, um sich zu beschweren: Der Physiotherapeut im Leistungszentrum verweigere ihm den Dienst, weil er kein Kaderathlet mehr sei. Papen klärte den Physiotherapeuten über Herms auf: "Das ist immer noch ein Hoffnungsträger." Herms bekam seine Behandlung. Und so war es auch sonst: Herms wurde nicht rücksichtslos ins Abseits geschickt. Die Bundeswehr zahlte ihm 2008 noch zweimal 90 Tagessätze für Wehrübungen, als "Entgegenkommen", wie Papen sagt.

Asics überwies weniger, aber ließ ihn nicht fallen. "Seit 2001 hat er im Schnitt 20.000 bis 25.000 Euro jährlich verdient", sagt Kohls. Und der Förderverein, der das Laufteam der LG Braunschweig finanziert, ist auch kein sportkapitalistisches Monstrum: Der zweite Vorsitzende Bernhard Bröger klingt väterlich, als er berichtet, wie genügsam Herms 2006 bei den Vertragsverhandlungen war. Auch Bröger klagt etwas über das brutale Sportgeschäft, ehe er stolz von den Erfolgsprämien seines Vereins erzählt, die er "sehr sozial gestaffelt" nennt; Herms bekam als Zweiter der deutschen Meisterschaft 600 Euro.

Wer seine Normalform verliert, gerät leicht in Finanznot

Aber gut verdiente Herms nicht mehr, er bekam die strengen Gesetzmäßigkeiten des nationalen Leichtathletikbetriebs zu spüren: Wer seine Normalform verliert und nur den Sport hat, kommt leicht in Finanznot. Um das Risiko zu mindern, gibt es im DLV die Idee, Vertragsmodelle für Athleten einzuführen, die Ausbildungsversicherungen umfassen und Möglichkeiten bieten, Rücklagen zu bilden. Aber letztlich müssen die Sportler die Wirklichkeit ihres Gewerbes selbst annehmen. "Man muss klipp und klar sagen", sagt Eike Emrich, der DLV-Vizepräsident Leistungssport, "den Fokus der Aufmerksamkeit müssen Athleten bei aller Bedeutung, die der Sport für sie hat, auf ihre berufliche Perspektive legen. Und redlicherweise muss man das den Athleten auch sagen."

Wolfram Müller, 27, 1500-Meter-Läufer, kennt die Mahnungen. Aber am Anfang, als er die Fachwelt verblüffte, Zweiter der Junioren-WM 2000 wurde, deutscher Meister 2001 und so weiter, da schien der Sport doch genug zu sein zum Leben. "Manchmal geht halt alles sehr schnell. Von viel zu fast gar nichts mehr." Er und Herms haben ähnliche Karrieren gemacht. Beide stammen aus der Pirnaer Trainingsgruppe von Klaus Müller, beide sind Asics-Athleten, beide schieden mal im Streit aus Pirna, beide schlitterten ins Tief. Aber Wolfram Müller sagt nicht, dass ihm jemand den Rücken zugekehrt hätte.

Auf dem Weg zurück

Seit zehn Jahren ist ihm Asics treu, auch ohne die Hilfe von Freunden, Familie, Verein hätte er längst aufgeben müssen. Das Leistungsprinzip findet er in Ordnung. Und ja, die Ausbildung geht ihm ab heute: "Ich habe es verpasst." Mittlerweile ist er verheiratet. 2008 war er immerhin Zweiter der deutschen Meisterschaften, und er sagt: "Ich kann froh sein für das, was ich hab'." Nur eines scheint ihn zu beklemmen. Dieser innere Druck nach Verletzungen oder Krankheiten. Klar, sagt Müller, "jeder Sportler ist bestrebt, möglichst schnell sein Training wieder aufzunehmen".

René Herms war zuletzt wieder sein Laufpartner. Herms hatte sein Pensum verschärft. Er hatte überhaupt sein Leben neu organisiert, eine Firma namens Wohntraum Lohmen gegründet, nach dem Aus bei der Bundeswehr ein Wirtschaftsfernstudium aufgenommen. Wolfram Müller sagt, im Trainingslager habe Herms nebenbei gelernt, und auf der Bahn sei er in guter Form gewesen. Auch beim DLV heißt es, der frühere Meister sei auf dem Weg zurück aus der Versenkung gewesen. Die Vorzeichen stimmten. René Herms musste aus seinen Rückschlägen gelernt haben.

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