Leicester City:Leicester City wehrt sich gegen das Ende der Abenteuerreise

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  • Leicester City verliert bei Atlético Madrid mit 1:0 - hat aber noch realistische Chancen, das Halbfinale der Champions League zu erreichen.
  • Interimstrainer Craig Shakespeare überlässt die Mannschaft weitgehend sich selbst.
  • Bei einem Ausscheiden droht aber der schon oft prophezeite Zerfall der Mannschaft.

Von Sven Haist, Madrid

Atlético Madrid ist gewarnt. Es gibt inzwischen einige Fußballvereine, die im Gefühl der eigenen Unverwundbarkeit zu einem Spiel nach Leicester gereist sind und die dort dann feststellen mussten, dass sie einem Irrtum erlagen.

Alphabetisch sortiert, befinden sich Brügge und Chelsea ganz oben. Wobei José Mourinho in der Vorsaison gar seinen Trainerposten bei den Londonern räumen musste nach einer Niederlage bei Leicester City. Dahinter kommen dann Kopenhagen und Liverpool, ebenso haben Manchester City sowie Porto schon das Nachsehen gehabt gegen Englands Überraschungsmeister.

Seitdem sich kürzlich auch Sevilla in diese Liste eingereiht hat, stellt sich die Frage: Ist es denkbar, dass Atlético Madrid tatsächlich dasselbe Schicksal ereilt? Dass der nächste Favorit diesen banalen Klub aus den East Midlands unterschätzt? Dass Leicesters Abenteuerreise durch Europa einfach weitergeht? Das ist zumindest der Traum derjenigen, die nicht genug bekommen können vom Aufstand des Tabellen-11. der Premier League gegen das Establishment des Fußballs. Und die weiterhin eine britische Mannschaft in der Champions League sehen möchten.

Das 0:1 (durch Antoine Griezmann) im Hinspiel des Viertelfinals bringt Leicester einen knappen Rückstand ein, der dem Spielverlauf nach nicht so knapp hätte ausfallen dürfen. Phasenweise besaß Atlético einen Ballbesitzanteil von 80 Prozent, in jeder Statistik gingen die Spanier als Sieger hervor.

Nach der Auslosung war abzusehen gewesen, dass Leicesters Spieler sich ihre Kraft für die entscheidende Partie vor heimischer Kulisse aufheben werden. Im Stadion Vicente Calderón ging es am Mittwoch bloß darum, den Schaden in Grenzen zu halten. Dieses Vorhaben gelang mit einer nahezu klinischen Defensivleistung, die kaum Angriffsfläche bot. Lediglich die gelbe Karte von Robert Huth ist ein Ärgernis, da der Abwehrkoloss am Dienstagabend im Rückspiel dadurch gesperrt fehlen wird.

Im besten Fall kann ihn Kapitän Wes Morgan nach überstandenen Rückenproblemen ersetzen. Wahrscheinlich ist aber, dass Leicester ohne seine beiden nominell besten Zentralverteidiger auskommen muss. Eine veränderte Personalauswahl würde immerhin die Chance bieten, die Antrittsschnelligkeit in der Abwehr zu erhöhen. Bei der Aufholjagd geht es mitunter darum, Konter zu verhindern. Ein Treffer Atléticos - und Leicester müsste fürs Weiterkommen gleich drei Tore erzielen.

Dabei gelang den Foxes beim Aufeinandertreffen in Madrid nicht mal ein Schuss aufs Tor. Bei seiner Auswechslung in der Schlussphase hatte Angreifer Jamie Vardy lediglich zwei Pässe gespielt. Aber welche Aussagekraft haben diese Zahlen schon, wenn Leicesters märchenhaft anmutender Aufstieg im Allgemeinen dort beginnt, wo Logik aufhört?

Wie unangenehm es für andere Mannschaften ist, gegen Leicester zu agieren, erlebte Leicester am Mittwoch selbst. Die Spielweise von Atlético Madrid, das in seinem Kern gerne für sich den Geist des Außenseiters reklamiert, gilt als das insgeheime Vorbild. Von Atlético etwas abzuschauen, bedeutet, das Verteidigen lernen. Auf Konter ausgerichtet zu sein. Die Standardsituationen wertzuschätzen.

Beide Mannschaften haben eine ähnliche Grundformation auf dem Platz: zwei eng aneinander liegende Viererreihen mit zwei Stürmern davor. Die Spieler besitzen zwischen sich die immer gleichen symmetrischen Abstände. Auch das positionsspezifische Verhalten der Innenverteidiger etwa ist beinahe deckungsgleich. Nichts veranlasst sie dazu, das Feld vor dem eigenen Tor zu räumen, um mal an anderer Stelle auszuhelfen.

Das sind die typischen Züge der italienischen Verteidigungsschule, die nicht nur Leicesters Meistertrainer Claudio Ranieri beigebracht bekam, sondern auch: Diego Simeone. Als Profi spielte Simeone jahrelang für Inter Mailand und Lazio Rom. Bei Atlético hört nun jeder auf seinen Herzschlag. Mit Kapitän Gabi im defensiven Mittelfeld besitzt Simeone einen Spieler auf dem Platz, der so denkt wie er als Trainer am Seitenrand.

Eine solche Überfigur gibt es in Leicester nicht. Die Spieler coachen sich weitestgehend selbst. Durch die Entlassung Ranieris haben die Profis noch einmal an Einfluss gewonnen. Der neue Interimstrainer Craig Shakespeare, 53, ist froh, in seiner Karriere nicht mehr nur Assistent zu sein. Obwohl er am Seitenrand genau den Eindruck des Assistenten vermittelt. Selbst in der Champions League coacht er im Trainingsanzug und Fußballschuhen.

Eingriffe ins Spiel oder gar Restriktionen gibt es von ihm kaum. Seine Theorie: das positive Votum der Spieler bekommen und dadurch auch die Gunst der thailändischen Eigentümer. Shakespeare würde nämlich gerne über die Saison hinaus Cheftrainer bleiben.

Ob es dazu kommt, hängt maßgeblich vom Ausgang des Duells mit Atlético ab. Das Ende der Abenteuerreise durch Europa wäre gleichbedeutend mit dem Zerfall des Teams. Ruhm und Glanz würden dann auf unbestimmte Zeit aus Leicester verschwinden. Ein solches Szenario ist auf der Insel schon mehrfach vorausgesagt worden. Aber dann tat Leicester City das, was der Klub gemeinhin am besten kann: die Prognosen widerlegen.

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