Lehmann in London:Besser in der Luft

Jens Lehmann verrichtet bei Arsenal eher unauffällig seine Arbeit - wird aber dafür geschätzt.

Von Raphael Honigstein

Als Arsenal vor ein paar Wochen an der Stamford Bridge mit 2:1 siegte, wurde Arsène Wenger nach dem Schlusspfiff gefragt, ob sich der entscheidende Unterschied zwischen beiden Mannschaften vielleicht an den Torhütern fest machen ließe.

Der sonst betont nüchterne Franzose überlegte kurz, dann setzte er überraschend zu einer wahren Lobeshymne an: "Dank Jens sind wir dieses Jahr besser in der Luft, und wir kassieren weniger Tore. Er kommt oft aus dem Tor und geht schwierige Bälle an, das gibt dem Team Sicherheit. Jens spielt eine überragende Saison. Ich respektiere Oliver Kahn, aber wer dieses Jahr alle seine Spiele für uns gesehen hat, könnte zu der Erkenntnis kommen, dass Jens Recht hat (mit seiner Forderung, in der Nationalmannschaft zu spielen, die Red.)."

Wunderbare Kritik

Die wunderbare Kritik könnte ein wenig damit zu tun gehabt haben, dass Lehmanns Gegenüber, Chelseas Ersatztorwart Neil Sullivan, an jenem Tag mit der Eleganz einer faulen Pflaume durch den Strafraum gepurzelt war. Doch der Deutsche hat nach einer äußerst soliden Spielzeit mittlerweile die meisten Skeptiker von seinen Qualitäten überzeugt. Allein die Zahlen sind beeindruckend: Obwohl die Gunners mit dem pausenlos stürmenden Linksverteidiger Ashley Cole und dem zum zentralen Abwehrspieler umfunktionierten Mittelfeldmann Kolo Touré verteidigen, hat Arsenal die wenigsten Tore kassiert und ist nach 29 Spielen weiter ungeschlagen. Reißt die Serie am Sonntag gegen Manchester United nicht, ist ein neuer Ligarekord aufgestellt.

Zuerst bekommt es Arsenal jedoch heute Abend in der Champions League mit dem FC Chelsea zu tun. Arsenal ist in dem Wettbewerb noch nie über das Viertelfinale hinaus gekommen, doch in dieses Jahr gilt das Team zusammen mit dem AC Milan als Topfavorit. Unter anderem auch, weil nicht länger der altersschwache David Seaman das Tor hütet, sondern ein ruhiger, unspektakulärer Keeper, der zwar bisher keine jener "Unhaltbaren" - aber dafür fast alle haltbaren Bälle gehalten hat.

Das reicht schon, um die meisten Gegner zu bezwingen, denn vorne fällt dem Quartett um Henry, Ljungberg, Pires und Bergkamp seit einer Weile immer etwas Geniales ein.

Selbst Berufsskeptiker Peter Schmeichel, der gemeinhin als der beste Torwart in der Geschichte der Premier League eingeschätzt wird und meist nur wenig Gutes über die aktiven Kollegen verkündet, ist ein Fan: "Lehmann hat mich positiv überrascht. Ich kenne Leute, die mit ihm in Deutschland gespielt haben und mir sagten, was er dort für einen Ruf hatte: ein guter Torhüter, aber total verrückt, immer für einen Elfmeter oder eine Rote Karte gut. Er war auch bekannt dafür, andere Spieler öffentlich zu kritisieren, was in Deutschland wohl üblich ist, aber hier hat man davon nichts gesehen. Bis auf ein paar temperamentvolle Momente hat er seinen Ruf nicht bestätigt."

Cooler Lehmann

Lehmann ist cool auf dem Platz, nur in Old Trafford war er in ein kleines Handgemenge verwickelt, und im Dezember hat er Kevin Philips von Southampton den Ball an den Kopf geworfen, weil er ihm auf den Fuß getreten war. Das hat ihm 10 000 Pfund Strafe vom englischen Verband und einen unvorteilhaften Vergleich mit Bert Trautmann eingebracht, der 1956 mit gebrochenem Hals Manchester Citys FA-Pokal-Sieg festhielt.

"Trautmann hätte eine Prellung am Fuß bestimmt nicht bemerkt. Aber Lehmann hat ja auch nicht in Russland an der Front gekämpft", spottete der Guardian.

Trifft man Lehmann nach den Spielen, in der Mixed Zone oder zwischen Polizeipferden und überdrehten Ordnern außerhalb des Stadions, wirkt er extrem entspannt, fast schon locker. Einem aus Deutschland angereisten Kollegen vom DSF hat er zwar vor einigen Wochen wegen der "negativen Berichterstattung" des Senders die Zusammenarbeit gekündigt, doch es sind meistens leise Töne der Dankbarkeit und inneren Ruhe, die man derzeit von ihm hört.

Lehmann wird nicht mehr über das Pech hinwegkommen, im Lande des "Torwart-Titans" geboren zu sein, doch er weiß schon, dass es das Schicksal im Sommer sehr gut mit ihm gemeint hat: Er ist im Herbst seiner Karriere ein wenig unverhofft bei der spielstärksten, attraktivsten Mannschaft Europas gelandet.

Famose Gunners

Die Meisterschaft hat Lehmann mit den famosen Gunners schon fast sicher, der ewige Zweite im Tor des DFB wird der erste Deutsche sein, der die Premier League gewinnt.

Und mit einem Sieg in der Champions League, wo er neben Chelseas Robert Huth der letzte verbliebene Spieler aus Deutschland ist, könnte der ungeliebte "Schnösel" (Carsten Jancker) mit einem Schlag auch außerhalb Gelsenkirchens doch noch zum echten Held werden. "Ein besonderes Gefühl" habe er für den Wettbewerb, meint er, weil das Finale in Schalke stattfindet, seinem Schalke. Es könnte seine Saison werden. Bis zum EM-Beginn jedenfalls.

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