Biathlon:Taugt Laura Dahlmeier zum großen Vorbild?

Laura Dahlmeier of Germany in action during the women's 10km pursuit during the Biathlon World Cup in Ostersund

Vorsprung durch Treffsicherheit: Laura Dahlmeier setzt regelmäßig über 90 Prozent aller Kugeln auf die Scheibe - ein Grund für ihren dominanten Saisonstart.

(Foto: Anders Wiklund/Reuters)

Rosberg, Hambüchen, Biedermann, Riesch: Der deutsche Sport verliert prägende Persönlichkeiten. Gerade in dieser Zeit könnte die herausragende Biathletin die Lücke schließen.

Von Volker Kreisl

Biathlon ist Laufen und Schießen, aber auch Rechnen. Zum Beispiel: Zwei plus zwei ist vier. Und: Vier plus vier ergibt acht. Und Acht ist ein Betrag, der manchmal kaum ins Gewicht fällt, und manchmal riesengroß wird, je nachdem.

Laura Dahlmeier, 23, die Weltmeisterin in der Verfolgung, hat im Sommertraining einen weiteren Schritt nach vorne gemacht. Sie hat mal wieder aufs Tempo gedrückt, diesmal aber beim Schießen, bei der Ablaufzeit bis zum ersten Schuss. Stöcke ablegen, Gewehr herum nehmen, Schutzkappe öffnen, Magazin einlegen, Hinstellen, Einatmen, Ausatmen - das ging noch zu langsam. Zwei Monate lang hat sie daran gearbeitet, zwei Monate für zwei Sekunden Zeitgewinn. "Ein gutes Ergebnis", sagt Trainer Tobias Reiter. Denn zwei Sekunden pro Schießen ergeben im kurzen Sprint vier und in langen Rennen acht Sekunden. Die können, je nachdem wie stark die anderen sind, über eine Medaille entscheiden.

Die neue Neuner? "Ich fühle mich geehrt", sagt Dahlmeier

Die acht Sekunden sind zwar ein Detail, aber auch sie hängen mit der größeren Kalkulation zusammen, die derzeit die deutsche Wintersportwelt beschäftigt: mit der Neunerfrage. Die Überlegung, wann im Biathlon mal wieder eine dominante Athletin auf die Bühne tritt, eine wie die Rekord-Weltmeisterin Magdalena Neuner. Seit deren Rücktritt 2012 ist der Sport auf der Suche nach einer Nachfolgerin, und betrachtet man die Neunerfrage abstrakter, dann stellt sie sich nicht nur im Biathlon, sondern in vielen Einzelsportarten. Denn volksnahe Vorbilder werden knapp. Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber und Skifahrer Felix Neureuther sind noch dabei, aber sonst? Skifahrerin Riesch, Turner Hambüchen, Schwimmer Biedermann, Rennfahrer Rosberg - einer nach dem anderen verabschiedet sich. Laura Dahlmeier aber erscheint gerade so richtig, und das in überragender Weise. Mit ihrem vierten Platz im Sprint in Nove Mesto, den sie trotz zweier Schießfehler errang, baute sie ihre Führung im Gesamt-Weltcup aus.

Nach sechs Rennen lag sie mit 72 Punkten vor den anderen. Im Weltcup eine Woche zuvor gewann sie in allen drei Wettkämpfen. Insgesamt hat sie in Einzelrennen drei erste Plätze erreicht, neben einem zweiten und zwei vierten. Das sind eher abstrakte Zahlen, richtig vor Augen trat ihre Vielseitigkeit zuletzt im Staffelfinale, im Zweikampf mit der Französin Marie Dorin-Habert, als die Alpinistin Dahlmeier erst am Anstieg davonsprang, dann die kurvenreiche Abfahrt meisterte, als hätte sie Carver an den Füßen und keine 4,5 Zentimeter schmalen Latten. Auch das hatte man vorab kalkuliert, sagt Reiter: Am Anstieg zwei Sekunden Vorsprung, in der Abfahrt noch mal fünf. Zwei plus fünf ergibt sieben.

Im Sommer reiste Dahlmeier nach Neapel

Dass nun die Neuner-Assoziation kommt, konnte sich Dahlmeier auch an zehn Fingern abzählen. Normalerweise erklären Biathletinnen da, solche Vergleiche würden nichts bringen - mit der offenen Begründung, weil jeder anders ist, und mit der stillen Überlegung, dass einen die Rolle als neue Neuner auch dort nachdenken lässt, wo man keinesfalls nachdenken darf: am Schießstand. Laura Dahlmeier aber antwortete: "Ich fühle mich geehrt." Und sagte noch: "Mein eigentliches Vorbild ist Martin Fourcade." Der Franzose Fourcade, 28, ist ein fokussierter Vollprofi, der bis auf ein paar Gelegenheitspatzer keine Fehler macht, nun 52 Weltcup-Einzelsiege hat und theoretisch die immer noch aktive Biathlon-Legende Ole Einar Björndalen (94 Einzelsiege) einholen kann.

Laura Dahlmeier verfügte bis zuletzt über zehn Weltcup-Einzelsiege, und weil sie in diesem Sommer und Herbst zum ersten Mal keine nennenswerten Trainingspausen einlegen musste, ist sie so gut in Form wie noch nie. Ihre Stärken lagen schon immer im präzisen Schießen, Dahlmeier setzt regelmäßig über 90 Prozent aller Kugeln auf die Scheibe. Nun feilt sie an den Details, den versteckten Zeitgewinnen, an der Lauftechnik. Aber das sind die Grundvoraussetzungen jeder Weltklasse-Biathletin. Was Dahlmeier von den anderen abheben könnte, ist ihr natürliches Selbstbewusstsein.

Wo sie dieses erworben hat, ist nur zu erahnen, vielleicht war es die Kindheit, vielleicht ist es eine Typ-Frage, wahrscheinlich liegt es auch an ihrem Hobby, dem Klettern an recht hohen Felswänden, dem Hinter-Sich-Lassen tausend Meter tiefer Abgründe. Jedenfalls hat Dahlmeier manchmal, wenn sie Reporter-Fragen beantwortet, diesen zurückfragenden Blick: Was soll das? Das war schon bei ihrem ersten großen WM-Staffel-Auftritt so, als sie als 19 Jahre alte Null-Fehler-Schützin gefragt wurde, ob sie jetzt selbst überrascht sei. Und diesen Blick hatte sie auch, als man nach ihrem Kletter-Sturz 2014 von ihr wissen wollte, ob Bergsteigen nicht recht gefährlich sei für einen Sportprofi. Mittlerweile hat Dahlmeier auf ihr Gewehr ein Motto gepappt: "Scheiß' da nix, dann feid' da nix". Frei übersetzt: "Trau dich was."

Selbstbewusstsein hat auch mit Zufriedenheit zu tun. Das Bergsteigen hat sie in diesem Sommer nach Nepal geführt. Dort hat sie außer sehr hohen Felswänden auch die Genügsamkeit der Menschen beeindruckt, vor allem jener Lastenschlepper, die 30 bis 90 Kilo bis zu sechs Stunden trugen und dafür zehn Dollar bekamen. "Gewichte", sagt Dahlmeier, "die ich im Maximalkrafttraining nicht oft hoch kriege". 90 mal 6 ergibt 10 - diese Rechnung stimmt mathematisch nicht ganz, aber sie kann eine Sportlerin, die nun alle Möglichkeiten hat, durchaus erden.

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