Langstreckenläufer Viktor Röthlin:"Beim Marathon zerstörst du"

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Der Schweizer WM-Dritte über die Pekinger Luft, die Einsamkeit des Langstreckenläufers und seine Trainingslehre für Hobby-Sportler.

Christophe Martin und Thomas Hahn

Mit dem Paris-Marathon am Sonntag beginnt die Saison der Frühjahrsklassiker. Ein interessierter Zuschauer ist dabei der Schweizer WM-Dritte Viktor Röthlin, 33. Der gelernte Physiotherapeut wechselte 1998 von der 10.000-Meter-Strecke zum Marathon. Vor drei Jahren wurde Röthlin Profi und hat sich seither zu einem der schnellsten Europäer entwickelt. Im Februar verbesserte Röthlin den Schweizer Rekord auf 2:07:23 Stunden.

Bei der WM 2007 in Japan wurde Marathonläufer Viktor Röthlin Dritter. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Röthlin, haben Sie sich auch schon Ultraleicht-Gasmasken zugelegt wie etwa Ihre amerikanischen Kollegen?

Röthlin: Nein. Werde ich auch nicht. Wie die Bedingungen sein werden beim Olympia-Marathon in Peking am 24. August, das wissen wir erst kurz davor. Und so viel ich weiß, kann man sich nicht an die Luftverschmutzung gewöhnen. Insofern bringt es auch nichts, jetzt immer die Autobahnen entlang zu rennen.

SZ: Diese Olympia-Vorbereitung scheint speziell zu sein.

Röthlin: Die große Herausforderung ist die hohe Luftfeuchtigkeit und die Hitze. Daran kann man sich scheinbar gewöhnen. Vergangenes Jahr habe ich gute Erfahrungen gesammelt vor der WM in Osaka mit der langen Akklimatisierung. Wie man sich an Luftverschmutzung gewöhnen kann, weiß ich nicht.

SZ: Hätten Sie Olympia in den Pekinger Smog vergeben?

Röthlin: Gerade für uns Langstreckenläufer ist es sehr suboptimal. Obwohl es beim Rennen auch anders sein kann. Ich war im Februar in Peking, dort waren die ganzen Kohle-Heizkraftwerke noch in Betrieb. Da gab es auch einen Tag, an dem der Wind drehte und ich nie den Eindruck hatte, es kratzt im Hals. Grundsätzlich ist in Peking der Luftaustausch das Problem, weil die Stadt in einem Kessel liegt. Aber zurück zur Frage: Wenn ich die Spiele vergeben dürfte, würde ich sie nicht nach Peking vergeben.

SZ: Auch aus politischen Gründen?

Röthlin: Nein, das führt zu weit. Bleiben wir doch bei der Kompetenz, die wir haben. Was ich persönlich über die politische Lage finde, ist eine andere Geschichte. Aber ich würde mir nicht als Sportler anmaßen, Statements abzugeben.

SZ: Viele tun es. Zuletzt kursierte die Frage: Boykott ja oder nein?

Röthlin: Ich bin Sportler, der bei diesen Spielen am Start stehen will. Und wenn irgendjemand entscheidet, wir boykottieren diese Spiele, dann ist es so. Du musst so etwas akzeptieren.

Auf der nächsten Seite: Wie Viktor Röthlin seine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking einschätzt und wie die Politik sein Training beeinflusst hat.

SZ: Olympia ist doch Ihr großes Ziel.

Röthlin: Klar, aber ich kann mich auch eine Woche vorher verletzen. Man darf sich nicht zu sehr damit identifizieren.

SZ: Sind Sie als Olympia-Athlet noch Herr Ihrer eigenen Interessen?

Röthlin: Nein, da müssen wir realistisch sein. Um den Sport geht es dort nicht. Wir sind Mittel zum Zweck, nicht nur bei Olympia. Klar braucht es uns Athleten, dass sich sehr viele einflussreiche Menschen immer wieder treffen können und ziemlich viele Geschäfte abschließen können rundherum. Aber du machst dir keine Gedanken darüber. Das Schöne ist: Der Moment WM, EM, Olympia gibt uns Sportlern ein Schaufenster, in dem wir unsere Leistungen zeigen können.

SZ: Das IOC sieht seine Spiele immerhin im Dienste des Weltfriedens. Müsste es da in einer Diktatur nicht mehr einbringen als wirtschaftliche Interessen?

Röthlin: Die ganze Geschichte ist so komplex und so ineinander hineingeflochten, dass du es gar nie trennen kannst. Der Sportverband versucht dann halt diese Trennung zu machen, um zu sagen, wir kommen zurück zum Sport. Was ich vom IOC erwarte, ist nicht interessant. Ich will laufen. Über solche höheren Dinge mache ich mir sonst schon Gedanken. Aber wenn ich am Start stehe oder wenn ich auf ein Ziel hintrainiere, ist da dieser Grundwunsch nach Bewegung, nicht danach, Weltpolitik zu betreiben. Oder zu fragen, was heißt das,...

SZ: ... Teil der Propaganda zu sein ...

Röthlin: Genau. Aber es ist schwierig, das immer klar zu trennen. Ich bin ja der gleiche Mensch, privat und als Läufer.

SZ: Überlegen Sie sich Aktionen?

Röthlin: Schauen Sie, die ganze Polemik von den Leuten, die auf uns Sportler zeigen und sagen, wir müssten ein Zeichen setzen: Jeder kann selber anfangen, China zu boykottieren. Die Kamera, die mich gerade fotografiert, ist wahrscheinlich made in China, das Shirt hier. Ich finde das ein bisschen falsch, wenn man sagt: Ihr Sportler, setzt ein Zeichen! Können wir schon. Aber das darf, glaube ich, jeder für sich selbst entscheiden.

SZ: Die Politik kommt Ihnen dieses Jahr ständig dazwischen. Wegen der Unruhen nach den Wahlen in Kenia mussten Sie Ihr Trainingslager abbrechen.

Röthlin: Ich wurde mit einer Situation konfrontiert, die sicherlich Spuren hinterlassen hat. Weil ein Land, das ich als zweite Heimat nannte, sich mir in einem völlig anderen Blickwinkel gezeigt hat. Aber man muss realistisch sein. Auch dort, wo die Welt scheinbar in Ordnung ist, gibt es Probleme. Ich hätte im Januar in Kenia bleiben können, mein Leben war nicht bedroht. Aber ich konnte nicht trainieren, wie ich wollte. Das heißt, auch dort habe ich sportlich entschieden.

SZ: So pragmatisch sind Sie vor dem Schrecken ethnischer Konflikte?

Röthlin: Es gibt zwei Seiten, die rationale und die menschliche. Als ich zurückkam, hat mich dieser Medienrummel genervt. Für mich war es nicht nachvollziehbar, dass ich zu meinen gestörten Olympiaplänen befragt werde, während in Kenia Kinder verbrannt werden.

SZ: Das ist Sportjournalismus.

Röthlin: Ja, schlussendlich haben Sie diese Frage zu stellen. Auch ich kann ja nicht versuchen, ein guter Mensch zu sein, bei meinem geplanten Marathon 2:20 Stunden laufen und zu Protokoll geben, ich habe nicht trainiert, weil ... Ich werde letztendlich am Erfolg gemessen.

Auf der nächsten Seite: Viktor Röthlin über seinen Konkurrenten Haile Gebrselassie, die Eintönigkeit des Langstreckenlaufs und das Antidopingsystem.

SZ: Sie hatten Ihren Frühjahrs-Einsatz schon im Februar. Wie erleben Sie nun diesen Marathon-Frühling?

Röthlin: Es ist eine gute Situation, 2:07:23 gelaufen zu sein, jetzt die Erholung abgeschlossen zu haben und wieder im Aufbau für Peking zu sein. Weil alle, die jetzt laufen, haben dann Erholung und Vorbereitung auf dasselbe Ziel. Ich habe mehr Zeit. Das waren ja auch Lehren aus 2007, als ich im April Marathon lief und im August wieder. Ich hatte bis in den Juli hinein Mühe, den Marathon vom April zu verkraften. Ich freue mich darauf, diese Marathons zu schauen.

SZ: Beeinflusst die Absage des Weltrekordlers Haile Gebrselassie Ihre Pläne?

Röthlin: Wer läuft, wissen wir am 24. August oder ein paar Tage davor. Man kann tausend Mal verzichten und dann wieder laufen. Ehrlich gesagt hätte ich lieber Haile am Start als irgendeinen Äthiopier, den ich nicht einschätzen kann. Und wenn man bedenkt, dass sich ab und zu die Geschichte wiederholt: 2003 lief Paul Tergat aus Kenia Weltrekord und war der große Olympia-Favorit. Gewonnen hat dann der WM-Dritte 2003, Stefano Baldini aus Italien. Jetzt bin ich der WM-Dritte und Haile hat im Herbst den Weltrekord aufgestellt. Das sind die spannenden Parallelen.

SZ: Wann denken Sie sich sowas aus?

Röthlin: Du läufst viel im Wald. Und 75 Prozent meines Trainings finden im ruhigen Bereich statt, in dem ich also noch wirklich Philosophieren kann.

SZ: Philosophieren hilft gegen die Eintönigkeit des Langstreckenlaufs?

Röthlin: Eintönigkeit ist das falsche Wort. Es gibt Phasen, in denen ich einfach laufe und nicht weiß, wie ich von A nach B gekommen bin. Da bin ich irgendwo in Gedanken weg. Dann gibt es Phasen, in denen ich mich mit der Natur befasse und mich an etwas freue. Und dann gibt es Phasen, in denen ich viel verarbeite und mir Gedanken mache über mein Leben, über andere Dinge. Das wechselt sich ab. Ich muss mich nie wegen der Einsamkeit des Langstreckenläufers so mit etwas beschäftigen, dass ich das Laufen hinter mich bringe. Wenn ich laufe, bin ich immer noch der kleine Junge, der immer am liebsten gelaufen ist.

SZ: Wie fühlen Sie sich im Antidopingsystem Ihres Weltverbandes aufgehoben?

Röthlin: Gut. Das Testsystem ist viel besser geworden. Es testet nicht nur jeder nationale Verband, sondern die IAAF als Weltverband. Jeder Athlet der Welt auf einem gewissen Level hat die gleiche Meldepflicht und kann gleich kontrolliert werden. Ich glaube, dass meine Erfolge auch damit zusammenhängen. Dass ich gleichberechtigter werde.

SZ: Ihre Zeiten sind besser als früher, Ihr Erfolg hat ja wohl eher damit zu tun.

Röthlin: Aber wenn man schaut, wer bei der WM Medaillen gewonnen hat, dann gibt es eine Tendenz, dass wieder andere Nationen gewinnen oder gewisse Nationen nicht. Man weiß nie, was das heißt, aber der verbesserte Kontroll-Pool bewirkt sicherlich, dass Athleten, die betrügen wollen, es schwieriger haben.

SZ: Spürt man, wer betrügt?

Röthlin: Nein. Das weiß ich nicht von meinem besten Freund. Du kannst nur für dich selber in den Spiegel schauen.

SZ: Also verstehen Sie, dass auch von Ihnen niemand genau wissen kann, ob Sie nicht doch betrügen.

Röthlin: Dass meine Leistungsentwicklung in den vergangenen zwei, drei Jahren mich bei vielen Leuten in Dopingverdacht gebracht hat, ist mir völlig klar. Dass das so ist, haben wir uns auch selbst eingebrockt. Wir Sportler haben ja nicht das Gegenteil bewiesen. Grundsätzlich geht es darum, dass du weißt, für was du Sport betreiben willst. Dennoch: Du hast keine Chance, den Leuten beweisbar klar zu machen, dass du sauber bist. Jeder denkt eh, was er will, weil Hunderte, Tausende von Sportlern schon gesagt haben, was ich jetzt auch sage, und dann erwischt wurden. Vor Kindern bin ich ganz klar bei diesem Thema, weil ich ihnen sagen kann: Hey, ich kann euch die Gewissheit geben, dass es ohne Doping möglich ist, Medaillen zu gewinnen. Bei Erwachsenen höre ich damit auf. Sonst sagen die: ja, ja. Erzähl du.

Auf der nächsten Seite: Was einen Marathonläufer zerstört und wie das so genannte Vicsystem funktioniert.

SZ: Ihr frühe Karriere als 5.000- und 10.000-Meter-Läufer gilt als gescheitert. Wie unterscheidet sich die Erschöpfung über 10.000 Meter und 42,195 Kilometer?

Röthlin: Beim Marathon zerstörst du. Über 10.000 Meter bist du nur erschöpft, brauchst ein paar Tage und kannst wieder. Beim Marathon brauchst du Wochen, bis du wieder kannst. Diese Zerstörung ist nachweisbar. Wenn man nach meinen 2:07:23 von Tokio ein Bodyscreening macht, sieht man in den Knochen überall Mikrofrakturen, Vorzeichen von Ermüdungsbrüchen. Das ist zurückzuführen auf die zwei Stunden Schläge.

SZ: Macht ein Hobby-Marathonläufer genauso viel kaputt wie Sie?

Röthlin: Ich laufe den Marathon mit 90 bis 95 Prozent meiner absoluten Leistungsfähigkeit. Ich laufe ja nur zwei Stunden. Der Vier-Stunden-Läufer kann nicht vier Stunden mit 90 Prozent laufen. Er liegt bei 70 oder 60 Prozent. Dort ist die Geschwindigkeit und die Schlagwirkung anders. Darum muss sich ein Hobby-Marathonläufer auch nicht einlaufen vor dem Start. Er läuft in einem Tempo los, das einem Grundlagentraining entspricht. Wenn ich Grundlagentraining mache, gehe ich auch aus dem Haus raus und laufe einfach los.

SZ: Sie haben das so genannte Vicsystem entwickelt: Der Computer rechnet Ihr Training auf Programme für Hobbysportler herunter. Geht das überhaupt? Die Unterschiede sind doch sehr groß.

Röthlin: Ein Informatiker fragte mich vor drei Jahren, ob wir das versuchen wollen. Ich dachte erst, dass es nicht möglich ist, das Viktor-Röthlin-Training so zu programmieren, dass es auch für Fünf-, Vier-, Drei-Stundenläufer funktioniert. Aber ich sagte: Versuch es. Der Informatiker kam in mein Trainingslager nach Kenia, und dort haben wir über Stunden Regeln definiert. Er fragte: Du machst einen 38-Kilometer-Lauf, was heißt das für einen Vier-Stunden-Läufer? Wie lange muss der laufen? Das hat er dann in Formeln gelegt und nach Rücksprache mit mir daran angepasst, was realistisch ist. Seit einem Jahr trainieren Leute danach. Sie werden besser. Sie trainieren scheinbar richtig.

SZ: Was ist die Grundidee?

Röthlin: Es gibt kein Geheimnis. Dass ich im deutschsprachigen Raum jetzt scheinbar weit weg bin vom Rest, hat auch damit zu tun, dass ich gesund bin, dass ich einen Bewegungsapparat habe, der das alles erträgt. Aber grundlegende Fehler im Training mache ich sicherlich keine mehr. Dass man zum Beispiel in den zwei Wochen vor dem Marathon zu hart trainiert. Dann: Der wöchentliche lange Lauf ist für mich eine Grundlage, gestaffelt nach 30, 35, 38, 40 Kilometern. Und wenn ich meine langen Läufe vergleiche mit den Vorgaben aus der europäischen Lauflehre, dann sind meine schneller als die der alten Garde. Bei einem 40-Kilometer-Lauf können das 3:20, 3:25 Minuten pro Kilometer im Schnitt sein.

SZ: Könnte jeder begabte weiße deutschsprachige Läufer 2:07 laufen?

Röthlin: Wenn ich das schaffe, sollten das alle anderen auch schaffen. Kenia hat mir in vieler Hinsicht Entwicklungshilfe gegeben. Wir Europäer setzen uns gerne Barrieren. Zum Beispiel diese 2:08:47 von Jörg Peter 1988 - das war bis zu meinen 2:08:20 in Zürich vergangenes Jahr der schnellste Marathon eines deutschsprachigen Läufers. Und das war in den Köpfen drin: Schneller kann man nicht laufen. Wenn du einen Kenianer fragst, der Marathonläufer werden will, wie schnell er sein will, dann sagt er 2:05 oder 2:06. Er hat keine Ahnung, was das heißt. Er sagt das einfach, weil das eben gut ist. Und das habe ich vielleicht geschafft im Gegensatz zu anderen. Dass ich mir diese Barriere gar nicht setze.

© SZ vom 04.04.2008/mb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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