Lance Armstrong:Seine leichteste Übung

Der historische Sieg ist vollbracht: Lance Armstrong gewinnt die Tour zum sechsten Mal. Andreas Klöden und der Italiener Ivan Basso erreichten die Ränge zwei und drei. Jan Ullrich belegte Rang vier. Den Tagessieg holte sich der Belgier Boonen. Am Ende war Armstrong überrascht, wie unangefochten er zum Rekordsieg gekommen ist.

Von Andreas Burkert

"An manchen Tagen habe ich noch nicht einmal Lust, die Schuhe anzuziehen. Dann tappe ich einfach barfuß durch die Gegend (...) und denke über so komplizierte Dinge nach, ob ich nun ein Bier trinken oder doch lieber Golf spielen soll - und beschließe meistens ein Bier für jedes Loch zu trinken, das ich beinahe gespielt hätte."

Lance Armstrong: (Von links) Sprintrüpel Robbie McEwen mit Kind, Radgott Lance Armstrong, Bergziege Richard Virenque, Nachwuchs Vladimir Karpets.

(Von links) Sprintrüpel Robbie McEwen mit Kind, Radgott Lance Armstrong, Bergziege Richard Virenque, Nachwuchs Vladimir Karpets.

(Foto: Foto: dpa)

Das muss ein anderer Lance Armstrong gewesen sein, der das notiert hat; der diese Seite von sich zu Protokoll gab, sie ist nachzulesen in seinem Buch "Jede Sekunde zählt" (Bertelsmann Verlag, München).

Denn so ist Lance Armstrong nicht, er sagt ja am Samstagabend selbst über sich, er sei "eine Mischung aus Talent und Arbeit". Die Leute fragen ihn gerade, wie er das hinbekommen hat, sechsmal die Tour de France zu gewinnen. Er ergreift darauf lächelnd das Mikrophon und entgegnet: "Die Antwort, Mann, ist ganz einfach: harte Arbeit".

Lance Armstrong, 32, sitzt im Tagungszentrum "Micropolis" in Besançon, es liegt nur wenige Schritte von jener Linie entfernt, die er vorhin auf dem Velo ohne erkennbare Emotionen überquert hat. Dabei rief ihm sein Teamchef Johan Bruyneel in diesem Moment über den Funk ins Ohr, dass er "ES gemacht" habe - mit deutlichem Abstand auf Jan Ullrich das Zeitfahren von Besançon gewonnen und damit ganz sicher auch die Tour.

Nun stecken die beiden auf dem Podium die Köpfe zusammen, sie schauen auf das blaue Blatt mit dem Tagesklassement. Sie amüsieren sich prächtig. So einfach haben sie es sich wirklich nicht vorgestellt, "das war für mich sicher die lockerste Tour", sagt Armstrong. Er klingt dabei nicht einmal arrogant, und es ist ja wirklich so gewesen: Der Zweite, Andreas Klöden, hat fast sieben Minuten Rückstand. Eine kleine Ewigkeit.

Fähigkeit zur Selbstaufgabe

Bei seinem historischen sechsten Toursieg hat sich Lance Armstrong noch einmal selbst übertroffen, er erreichte mit fünf Etappensiegen einen persönlichen Rekord. Weil er "so stark wie nie" gewesen sei, wie sein Freund und Teampartner George Hincapie angibt.

Und weil er diesmal keine Geschenke verteilen mochte. Seine Übermacht nutzte Armstrong sogar dazu, ihm unsympathisches Fußvolk zu maßregeln (siehe nächste Seite). Die widrigen Wetterbedingungen zu Beginn und die massiven Anforderungen am Ende haben die Konkurrenz gebrochen - nur dem Radprofi Lance Armstrong haben sie nichts anhaben können.

Lance Armstrong ist wohl so etwas wie das Premiumprodukt der menschlichen Fähigkeit zur Selbstaufgabe; er hat sich eben als Rennfahrer jene offenbar grenzenlose Widerstands- und Leidensfähigkeit erhalten, dank der er vor sieben Jahren seine Hodenkrebserkrankung überstand. Er lebe "in der ständigen Angst, mir könnte die Zeit ausgehen", schreibt der Buchautor Armstrong. Deshalb nutzt er wirklich jede Sekunde. Steht morgens um sieben auf und erledigt die Geschäftspost. Er ruft per E-Mail seine Trainingsprogramme ab.

Er rechnet aus, wie viel Obst, Müsli oder Eiweiß er auf der morgendlichen Trainingsfahrt verbrennt. Er isst dann mittags Pasta und hält ein Nickerchen, fährt später wieder los, isst abends viel Fisch oder Huhn mit gedünstetem Gemüse. So lebt Mister Perfect, und so daten- und detailversessen organisiert er auch seine Mannschaft.

Seine leichteste Übung

US Postal fuhr dieses Jahr überragend wie nie, in Besançon hatten sie sechs unter den besten 16. "Unser Geheimnis ist, dass wir nicht das kleinste Detail dem Zufall überlassen", sagt George Hincapie, "wir sind auf wirklich jede Situation vorbereitet."

Der unheimliche Perfektionist und Tüftler Armstrong leitet diese Gruppe, gemeinsam mit dem früheren belgischen Profi Bruyneel, der ihm 1998 - nach einem vierten Platz bei der Vuelta ohne besondere Vorbereitung - eröffnete: "Du kannst die Tour gewinnen." Dank Bruyneels Anleitung habe er sein "Gewicht unten gehalten", sagt Armstrong, "und ich entdeckte, was für einen gewaltigen Unterschied in den Bergen das ausmacht".

Seitdem diszipliniert er sich, er sagt: "Man muss im wahrsten Sinne des Wortes jeden Herzschlag messen, jeden Krümel, den man isst, jeden Löffel Weizenflocken. Man muss willens sein, wie ein Vampir auszusehen, mit einem Körperfettanteil zwischen drei und vier."

Natürlich genieße er das Leben, betont Lance Armstrong in Besançon, "aber die Frage ist doch: Steigst du Heilig Abend aufs Rad, und am 1. Januar? Klar! Und zehn Kilo sechs Wochen vor dem Tourstart abarbeiten - nein, das geht nicht." Jan Ullrichs Namen hat Armstrong erstmals auf einer Siegerpressekonferenz nicht erwähnt. Aber er hat wohl an ihn gedacht.

Anquetil, Merckx, Hinault und Induraín haben die Tour fünfmal gewonnen, am sechsten Triumph sind sie allesamt gescheitert. Anquetil litt unter der Abneigung seiner Landsleute (die Franzosen favorisierten Poulidor), Armstrongs Freund Merckx an seinem Wahn, den kompletten Rennkalender bestreiten zu wollen; Hinault hinderten Knieproblemen und die Absprache mit dem Teamkollegen LeMond am Rekord und den stillen Basken Induraín die Sehnsucht nach Ruhe.

"Dass ich es geschafft habe, Geschichte zu schreiben, ist unglaublich", sagt Armstrong ein wenig ergriffen. Er glaubt, der knappe Ausgang der Tour 2003, als Ullrich nur 63 Sekunden fehlten, habe ihn aufgeweckt. "2003 war ich unten, ich ging zu Bett und dachte: Morgen habe ich einen besseren Tag. Doch er war es nicht - aber einen Tag war ich besser." In Luz-Ardiden, nach seinem Sturz. 2003 sei eine Warnung für ihn gewesen, "ich war deshalb im Winter eine andere Person".

Die Person Lance Armstrong wird mit Vorbehalten betrachtet, er weiß das. Vor Alpe d'Huez waren anonyme Hinweise auf einen Anschlag eingegangen, und auf der Strecke hat er wieder viele Schmährufe vernommen. Er könne damit leben, sagt Armstrong, "früher haben sie Merckx nicht gemocht, jetzt eben mich". Schwer falle ihm aber zu verstehen, "weshalb man einen feiert, der in den größten Dopingskandal verwickelt war".

Richard Virenque, den Gewinner der Bergwertung, hatten sie in Besançon mit deutlich mehr Beifall bedacht als den Meister. Weil er Franzose ist und weil sie dem Amerikaner wohl nicht recht trauen.

Lance Armstrong hat die Statistik der Tour besiegt und den Krebs, er hat damit vielen Menschen Hoffnung gegeben - und bei ebenso vielen Misstrauen hervorgerufen, den latenten Dopingverdacht wird er jedenfalls nicht mehr abhängen können. In seinem Buch erwähnt Armstrong David Millar, "den großartigen jungen britischen Radrennfahrer". Armstrong nennt ihn "meinen Freund". Millar, 27, hat kurz vor der Tour regelmäßiges Epo-Doping zugegeben. Zu Millar oder den jüngsten Vorwürfen gegen sich sagt Armstrong in Besançon kein Wort.

Ob der Rekordmann aus Texas noch einmal nach Frankreich zurückkommt? Armstrong lässt das offen. Ein paar Wochen Bedenkzeit werde er benötigen, meint er, zurzeit sei alles Spekulation. "Die Zeit rennt", er werde ja bald 33 und wolle noch einmal den Giro fahren und die WM, den Stundenweltrekord verbessern. Er macht wohl auf jeden Fall weiter, sonst hätte sich schließlich der Discovery Channel nicht mit viel Geld als neuer Teamsponsor verpflichtet.

Die Tour sei für ihn weiterhin das Allergrößte, schwärmt Armstrong, "sie liebe ich am meisten, und ich kann mir nicht vorstellen, sie auszulassen". Wenn er also wirklich weiter fährt, wird er vermutlich wieder nach Frankreich kommen. "Aber nur in perfekter Kondition, und nicht, um hier zu promenieren." Der Golfplatz muss wahrscheinlich noch eine Weile auf Lance Armstrong warten.

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