Fußball-WM:Deutschland braucht mehr Kroos

Germany v Mexico: Group F - 2018 FIFA World Cup Russia

Zum WM-Auftakt noch nicht in der Form eines Champions-League-Siegers: Toni Kroos.

(Foto: Getty Images)
  • Toni Kroos steht in der deutschen Mannschaft stellvertretend für jene große Weltmeister-Elf, die im ersten Spiel gegen Mexiko so unter ihren Möglichkeiten blieb.
  • Es ist zu hören, dass die Mitspieler ihrem grundsätzlich sehr bewunderten Champions-League-Sieger nicht mehr völlig unkritisch gegenüberstehen.
  • Doch das Team ist sich vor der Partie am Samstagabend gegen Schweden auch darin einig: Dass Toni Kroos nicht Teil des Problems, sondern der vielleicht entscheidende Teil der Lösung ist.

Von Christof Kneer, Sotschi

Der Mexikaner Carlos Vela war schon überall. Bereits als Jugendlicher ist er zum FC Arsenal gewechselt, der ihn dann leihweise auf große Spanien-Tournee geschickt hat, nach Vigo, Salamanca und zu Osasuna. Später spielte Vela sechs Jahre für Real Sociedad, seit Januar 2018 steht er beim neu gegründeten Franchise-Klub Los Angeles FC in der US-Profiliga unter Vertrag. Vela, 29, hat viel erlebt und gesehen, das meiste allerdings mit den Augen des Stürmers. Als Rechtsaußen hat er eine Menge Zeit verbracht, vorne in der Mitte war es auch immer okay für ihn, aber das, was dieser kauzige Carlos Osorio da plötzlich mit ihm vorhatte, das musste er sich schon erst mal schöndenken. Ob er sich vorstellen könne, im Mittelfeld eine Art Manndecker zu spielen?

Vela habe das "perfekt gemacht, er war unser wichtigster Mann", hat Mexikos Trainer Osorio nach dem 1:0 gegen Deutschland gesagt und sich damit schon auch selber gelobt. Auf diese Idee musste man ja erst mal kommen: nicht nur das Gegenteil dessen zu tun, was die Deutschen erwartet hatten (zurückziehen statt angreifen), sondern einfach auch ihren besten Mann nicht mitspielen lassen.

So ging die mexikanische Logik: Die Deutschen würden überrascht und im Idealfall überfordert sein von der unangemeldeten mexikanischen Spielweise, und in ihrer Not kämen die Deutschen sicher nur auf eine einzige Idee. Sie würden den Ball halt zu Toni Kroos rüberschieben, aus dem einfachen Grund, weil man jeden Ball zu Toni Kroos rüberschieben kann.

Diskussionsstoff in der Mannschaft

Der Fußballer Kroos ist aus strapazierfähigem Material gefertigt, er würde die Bälle auch bei Lärmbeschallung und Schlafentzug mit der ihm eigenen nüchternen Perfektion annehmen und weiterspielen, und womöglich hätte er auch noch einen Blick für den Mitspieler, wenn ihm vorher jemand hinterrücks eine Schlafbrille überstülpte. Das wäre Toni Kroos wurscht. Er kennt sich aus auf dem Platz. Nur mit einer Sache kann Kroos nicht so gut umgehen: wenn ihm jemand den Ball wegnimmt, noch bevor der Ball bei ihm ankommt. Jemand wie Carlos Vela.

Toni Kroos hat wahrscheinlich nicht mal ein wirklich schlechtes Spiel gemacht gegen Mexiko, auch wenn er hinterher dieselben miesen Kritiken bekam wie seine Mitspieler. Er hat im Grunde gar kein Spiel gemacht, und genau das war für Deutschland ein Problem.

Kroos, 28, ist kein klassischer Führungsspieler, er ist zu stoisch in seinem Wesen, um sich wuchtig in irgendwelche Diskussionen zu stürzen. Meist spielt er mit dem Enthusiasmus einer Ballmaschine, Ball annehmen, Ball spielen, Ball annehmen, Ball spielen, und wie kaum ein Zweiter hat er ein Gespür für die Richtung, die das Spiel gleich nehmen wird. Er spürt das oft eher als das Spiel selbst, und dann verlagert er das Geschehen nach links oder rechts, und manchmal merkt man erst in der Wiederholung, dass fünf Züge später ein Tor gefallen ist. Und wenn die Spielverlagerung einfach nur den Druck vom eigenen Tor weggehalten hat, dann sieht man das nicht mal in der Wiederholung. Dann war das eben einfach so.

Es hat also sich nicht vermeiden lassen, dass Kroos mit diesen unspektakulären, aber wirklich seltenen Qualitäten doch zur Führungsfigur im deutschen Team geworden ist, er ist der Schlüsselspieler, der gegnerische Trainer auf gemeine Ideen bringt. Deshalb darf im deutschen Quartier nun zwar gerne über defensive Kompaktheit und offensive Durchschlagskraft diskutiert werden, aber fest steht vor dem Spiel gegen Schweden vor allem eines: Das deutsche Spiel braucht mehr Kroos.

Die Frage, wie mehr Kroos in dieses deutsche Spiel hineinkommt, ist intern allerdings umstritten. Und diese Frage hat offenbar durchaus für Diskussionsstoff in der Mannschaft gesorgt.

Löw muss die Elf um Kroos herum anordnen

Bisher ist nicht viel nach draußen gedrungen über die geheime Aussprache, die nach dem Mexiko-Spiel im ebenfalls recht geheimen Watutinki stattfand. Inzwischen ist aber zu hören, dass auch Kroos ein Thema in dieser kritischen Debatte gewesen sein soll, und auch das eine oder andere Fundstück am Wegesrand lässt vermuten, dass die Mitspieler ihrem heiligen und grundsätzlich sehr bewunderten Champions-League-Sieger nicht mehr völlig unkritisch gegenüberstehen.

Eine WM sei nur "alle vier Jahre, das ist ein großes Ereignis in unserer Karriere, und das wollen wir uns natürlich nicht vermasseln lassen", hat Mats Hummels etwa am Donnerstag gesagt und angefügt, dass das selbst für Spieler gelte, "die mit Real Madrid dreimal die Champions League gewonnen haben". Ob das eine feine Anspielung war oder einfach nur ein Beispiel, das muss Hummels ebenso selbst entscheiden wie Thomas Müller, der tags zuvor über Mexikos Manndeckung gesprochen hatte. Um diese zu umgehen, sagte Müller, hätte es drei Möglichkeiten gegeben: Entweder hätte Kroos sich besser vom Gegner lösen müssen, oder die Stürmer hätten sich besser für Kroos' Pässe anbieten müssen, oder die Verteidiger hätten Kroos bessere Pässe hinspielen müssen. Am Ende, meinte Müller, sei es wohl ein Mix aus allem - womit er Teil eins seiner Vorschlagsliste ausdrücklich miteinbezog.

Toni Kroos steht einstweilen stellvertretend für jene große Weltmeister-Elf, die im ersten Spiel so unter ihren Möglichkeiten blieb. Kroos ist ein Weltstar und weit über jene Phase hinaus, in der ihm Kritiker Lässigkeit in Tateinheit mit Phlegma unterstellt haben, aber auf viel höherem Niveau sind zumindest in der öffentlichen Debatte ein paar der alten Argumentationsmuster wieder aufgetaucht. Der Kroos sprintet nicht! Der Kroos grätscht nicht! Der Kroos ist in der Rückwärtsbewegung zu langsam! Warum fordert der Kroos im Trainingslager "defensive Hingabe" und joggt dann im immer gleichen Tempo neben den Mexikanern her? Und warum beschwert er sich über jede Berührung, darf man viermalige Champions-League-Sieger etwa nicht mehr foulen oder was?

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Kroos gegen Mexiko nach 20 finsteren Minuten besser ins Spiel gefunden hat, er hat ein paar Schüsse abgesetzt und per Freistoß die Latte getroffen, und es wird nun auch an Jogi Löw liegen, die Elf um Kroos herum so anzuordnen, dass sein Rhythmusexperte nicht wieder blank dasteht und mit Defensivarbeit überlastet wird. Denn auch darin sind die Mitspieler sich einig: dass Toni Kroos nicht Teil des Problems, sondern der - vielleicht entscheidende - Teil der Lösung ist.

Ob die Schweden nun auch auf die Idee kommen werden, Kroos in Manndeckung zu nehmen? Der jeweilige Spieler sei jedenfalls schon mal vorab gewarnt. Carlos Vela musste nach 58 Minuten ausgewechselt werden. Er konnte nicht mehr.

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