Kommentar:Wie einst bei Erik Zabel

Im Handball-Titelkampf bleibt den Löwen nur eine Hoffnung: dass der THW Kiel plötzlich unkonzentriert wird und vor dem Zielstrich jubelt.

Von Klaus Hoeltzenbein

Darauf, dass es im Handball knapp werden kann, haben die Offiziellen reagiert. Bei der WM im Januar in Katar wurde erstmals der Kamera-Entscheid erprobt. Überfallartig, denn die Teams wurden erst Stunden vor dem Startpfiff informiert, dass fortan Big Brother zuschaut. Die Handballer führten nicht nur die Torlinien-Technik ein wie die Fußballer, sondern gleich den Videobeweis dazu, der neben der zentralen Frage (Tor? Kein Tor?) auch diverse weitere Urteile schnell stützen soll. Die deutschen Schiedsrichter zogen trotzdem positiv Bilanz: Es helfe ungemein, dass es "eine objektive Entscheidung" gebe und "unnötige Diskussionen vermieden werden", berichtete Lars Geipel.

Am Ostersonntag in Kiel nun mussten Geipel und Partner Marcus Helbig, mit dem er bei der WM war, ohne eine solche Videohilfe auskommen, da es diese in der Bundesliga noch nicht gibt. Beide unterstrichen ihren Standard als Spitzenschiedsrichter; in einem dramatischen, nicht schönen, aber hochklassigen Kampfgemälde behielten sie stets den Überblick. Besonders in jener Schlüsselszene, in der sie bewiesen, dass das menschliche Auge auch ohne Sehhilfe noch immer Besonderes leisten kann.

Gut, das Duo hat es leichter als die Kollegen in anderen Teamsportarten; einer der beiden steht immer neben dem Netz der verteidigenden Mannschaft, dort, wo beim Fußball extra ein Torrichter postiert wird. Und so zögerten Geipel/Helbig keinen Augenblick, als eine Wembley-Situation zu richten war. Beim letzten Wurf. Verbunden mit einer Entscheidung nicht nur über Sieg oder Remis, sondern auch über die deutsche Meisterschaft. Vier Sekunden vor Ende warf Aron Palmarsson freistehend vom Kreis, der Kieler traf die Unterkante der Latte, Zentimeter vor der Linie sprang der Ball auf, kein Tor, 23:23, Ende, Aus.

1126 Mal trafen die Löwen vorige Saison - es war zu wenig

Trotz des Unentschiedens zu Hause bleibt Kiel, auch wenn noch sechs Partien zu spielen sind, der Titelfavorit. Kurioserweise erneut wegen des besseren Tor-Verhältnisses: Vorige Saison trafen die Rhein-Neckar Löwen zwar 1126 Mal ins Netz - doch Kiel war in der Abrechnung zwei Törchen besser. Eine Hoffnung bleibt den Löwen noch, jene auf eine ähnliche Panne des THW wie sie 2010 dem Radprofi Erik Zabel widerfuhr. Angesichts des Zielstrichs beim Klassiker Mailand-Sanremo richtete sich Zabel auf, riss die Arme hoch - und übersah den vorbeisprintenden Oscar Freire.

Am Sonntag hatte der THW gegen die Löwen kurz vor Ende bereits mit vier Toren geführt. Warum es dann im Gefühl des nahen Triumphes trotzdem immer wieder zu Urteilen durch Zielfoto, Video oder Augenschein kommen kann? Die Küchenpsychologie des Sports kennt dazu die Erik-Zabel-These: Sobald die Anspannung sinkt, steigt die Spannung.

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