Kommentar:Raus aus dem Gehege

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Die Weltmeisterschaft mag Putins Russland nicht verändern. Aber das Turnier hat gezeigt, dass ein anderes Russland möglich ist. Man müsste es nur wagen.

Von Julian Hans

Es sind nicht nur die Ausländer, die bei der WM über Russland staunen. Die Russen selber reiben sich die Augen, weil sie ihr eigenes Land kaum wiedererkennen. Diese ausgelassene Stimmung, die Freundlichkeit der Freiwilligen, spontane Ansammlungen auf der Straße, ohne dass die Polizei einschreitet, Banner werden entrollt und niemand kommt dafür in Arrest. Polizisten spielen Fußball und lassen sich von Mexikanern die Sombreros aufsetzen. In diesem Land, sagen jetzt viele Russen, würden wir auch gerne leben. Um dann gleich die Sorge nachzuschicken, dass es nach dem Schlusspfiff am übernächsten Sonntag mit dem Zauber vorbei sein dürfte.

Die Frage ist, was bleibt. Der Sport als Brückenbauer und Versöhner der Völker ist das liebste Argument der Verbände, wenn es darum geht, Großveranstaltungen in autoritären Staaten zu rechtfertigen. So als würde ewiger Friede eintreten, würden nur alle Konflikte auf dem Rasen ausgetragen. So als würden alle Menschen Brüder, wenn sie nur statt über den Status der Krim über Vor- und Nachteil des Videobeweises diskutieren.

Aber bei aller Skepsis: Es ist ja doch etwas passiert, etwas, wofür der Diplomatie die Mittel fehlen. Diplomaten können mahnen, die russische Führung an internationales Recht erinnern und an die Menschenrechte. Das ist richtig, aber die Menschen in Russland reagieren empfindlich auf Ermahnungen. Die Fans mahnen nicht, sie tun etwas viel stärkeres: Sie benehmen sich einfach so, als seien sie in einem freien Land. Sie kennen die Regeln nicht, die geschriebenen, die ungeschriebenen, die jeder Bürger in Russland verinnerlicht hat: Versammlungen in der Öffentlichkeit nur, wenn der Staat dazu einlädt. Nicht laut rufen oder singen in der Metro, am besten gar nicht auffallen!

Sie trinken Bier auf der Straße, junge Männer tanzen mit nackten Oberkörpern in der Moskauer Fußgängerzone und zeigen, wofür sie den Winter über im Fitnessstudio trainiert haben. Das ist normalerweise eigentlich dem Präsidenten vorbehalten. Jeder andere müsste sich fragen lassen, ob seine sexuelle Orientierung eigentlich der gesellschaftlichen Norm entspricht. Die Gäste wissen nicht, dass vor Massenveranstaltungen normalerweise die Straßen mit Gittern abgesperrt werden, vor denen dann alle drei Meter ein grimmiger Mann von der Nationalgarde steht. Einlass nur durch Metallsuchgatter und nach Leibesvisitation. Öffentlichkeit nur im Gehege. Ohne politischen Hintergedanken führen die Gäste jetzt vor, dass es auch ohne geht. Menschen können sich spontan versammeln und nichts passiert! Die Angst, die der Staat dem Volk einimpft, um es dann vor sich selbst zu schützen, ist unbegründet.

Die ganze WM hat etwas von Karneval in seinem tieferen Sinne. Es ist eine Zeit, in der alle Regeln aufgehoben werden. Der Bürgermeister übergibt den Narren den Schlüssel zum Rathaus. Hinter Masken werden neue Rollen ausprobiert. Sogar Männer dürfen mal Frauen sein ohne schief angeguckt zu werden. Und man darf sogar über den Pfaffen lachen. Vergemeinschaftung im Rausch. Ob der Karneval nur Ventil bleibt, durch das Druck aus dem Kessel gelassen wird, oder ob das Ausprobieren neuer Rollen einen Wandel einleitet, das muss sich noch zeigen.

Spielt das jetzt Wladimir Putin in die Hände? Ja, könnte man sagen, denn er konnte sich der Welt als Präsident eines offenen, gut organisierten Landes präsentieren. Und das ist Russland sonst nicht. Aber Putin allein ist auch nicht Russland. Die WM mag sein Regime nicht verändert haben. Aber sie hat gezeigt, dass ein anderes Russland möglich ist. Der Ausnahmezustand hat bewiesen, dass es vom repressiven, miefigen zum weltoffenen, fröhlichen Russland nur ein Schritt ist. Man müsste ihn nur wagen.

© SZ vom 07.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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