Kommentar:Operation misslungen, Patient lebt

Ralf Wiegand

Die Schlachten der Großen werden bleiben, Ali in Mombasa, in Kinshasa, Frazier, Foreman, Max Schmeling. Die Geschichte des Schwergewichts-Boxens ist nicht umgeschrieben worden durch Vitali Klitschko und Lennox Lewis, aber für die Gegenwart, gemessen an der Zeit, in der sie boxen, war es ein großer Kampf. Es war genau das, was niemand erwartet hatte, eine wilde Rauferei im Ring, ein blutiger Dogfight, wie die Amerikaner das nennen, ab der ersten Runde offen für den Knockout, der beiden in jeder Sekunde möglich schien. Für Vitali Klitschko wird die durch den Ringarzt diagnostizierte Niederlage nicht lange eine bleiben - er hat den Respekt der Amerikaner gewonnen, die das Geld in seinen Sport schießen. Er darf wiederkommen.

Vieles kann man dem Boxsport nachsagen: Dass er korrupt ist, weil Weltranglisten manipuliert werden, dass die Anwälte ihn regieren, weil die Gegner zunehmend von Richtern zusammengeführt werden, dass er Menschen zu Helden macht, die in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Platz finden - gerade ist Mike Tyson mal wieder verhaftet worden. Aber man kann ihm auf keinen Fall die Faszination absprechen, irgendwann, und wenn es Jahre der Langeweile und Hunderte Runden programmierter Weltmeister dauert, plötzlich doch Augenblicke höchster Erregung, Momente fesselnder Spannung zu versprechen, in 18 Minuten Szenen zu kreieren, die ein guter Filmemacher herausschneiden würde, weil: zu kitschig.

18 Minuten, länger standen sich Lewis und Klitschko nicht gegenüber, aber die Zeit reichte, um die Meinung des wichtigsten Boxpublikums der Welt komplett zu drehen. Es war ein Segen für Vitali Klitschko, dass der Kampf gegen den Weltmeister Lewis so kurzfristig zu Stande gekommen war und deshalb nicht gegen Extra-Gebühr, sondern im regulären Programm des übertragenden Senders HBO gezeigt wurde. Fast 30 Millionen US-Zuschauer haben den Kanal abonniert, und sie haben eine Show gesehen, die jedem Rocky-Film zur Ehre gereicht hätte. Was immer auch über die Klitschkos bisher verbreitet wurde - intellektuelle Doktoren ohne Stehvermögen zu sein -, zählt nicht mehr. Vitali Klitschko hämmerte sich wie ein Bildhauer den Ruf eines beherzten Boxers zurecht. Die Operation am offenen Auge mag misslungen sein, aber der Patient lebt, denn der Ringarzt lieferte mit seinem Eingriff den Stoff, über den lange genug diskutiert werden wird, um eine Legende zu bilden.

Was auch immer die Klitschkos in den USA noch erreichen werden - es hat am 21. Juni im Staples Center in Los Angeles begonnen, in einem erinnerungswürdigen Kampf.

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