Olympia:Betrogen wurde immer, nur nicht so viel korrigiert

Oft heißt es, der Medaillenspiegel bei Olympia gehört abgeschafft. Dabei ist es spannend, wie kurz vor Beginn der Spiele noch immer von Ärzten und Juristen am Resultat von 2014 herumgedoktert wird.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

In der Geschichte der Leibesübungen gab es schon viel Unfug. Dazu gehört sicher auch die in allen Generationen stereotyp wiederholte Forderung, den Medaillenspiegel abzuschaffen. Wer sollte das tun? Wer es befehlen? Eine solche Maßnahme wäre ähnlich erfolgreich wie die Prohibition - je strikter das Verbot, desto mehr wird gesoffen. Und so ein Medaillenspiegel lässt sich ja viel leichter verfertigen als eine gut gelagerte Flasche Whisky. Sobald ihn der eine verbietet, schreibt ihn der andere flugs neu auf einen Zettel. Dazu genügte die Grundkenntnis der Addition. Früher zumindest.

Heute ist das anders. Am Medaillenspiegel von Sotschi 2014 wird immer noch von Ärzten und Juristen herumgedoktert, obwohl am Freitag in Südkorea schon die nächste Gold-Silber-Bronze-Zählerei der Wintersportler startet.

Besonders umstritten war der Medaillenspiegel, als die Mauer noch stand. Gerade im Westen war damals immer wieder ein Verbot der Edelmetall-Tabelle erörtert worden. Manche Medien erklärten gar heroisch ihren freiwilligen Verzicht, während sie gleichzeitig weiter hinten im Lokalteil die schönsten Mastkühe und schnellsten Brieftauben unter Nennung aller Weltrekord-Züchter präsentierten.

Betrogen wurde schon immer, nur nicht so viel korrigiert

Ein bisschen Inkonsequenz ist also immer dabei. Und deshalb lehnt natürlich auch diese Zeitung jedwede skrupellose Muskelmast überzeugt ab, bekennt sich aber dazu, deren Auswüchse auch bei Olympia in Pyeongchang präzise zu dokumentieren. Wie schwer bis unmöglich dies geworden ist, zeigt sich am Beispiel Sotschi. Als Staatspräsident Putin dort vor vier Jahren abpfiff, bevor er schon am Tag danach das Militär auf der Krim einmarschieren ließ, hatte der Medaillenspiegel folgende Spitze: 1. Russland, 13 Gold, 11 Silber, 9 Bronze. Dann aber setzte sich Grigorij Rodtschenkow, der langjährige Leiter des Moskauer Doping-Labors, in die USA ab; er stellte sich als Whistleblower zur Verfügung und bezeugte unter anderem jene Geschichte mit dem Loch in der Wand. Durch dieses legendäre Loch waren während der Sotschi-Spiele in der internationalen Doping-Kontrollzentrale - unter russischer Geheimdienst-Aufsicht - verschmutzte gegen saubere Proben getauscht worden.

Rodtschenkows Bekenntnisse brachten eine sport-juristische Lawine ins Rollen. Zu Jahresbeginn 2018 sah die Tabellenspitze so aus: 1. Norwegen (11/5/10), ... 4. Russland (9/5/8). Ein paar weitere Schnell-Verfahren vor dem Welt-Sportgerichtshof (Cas) später präsentiert sich die Sotschi-Tabelle jetzt zum Start in die Pyeongchang-Spiele wie folgt: 1. Russland (11/11/9), 2. Norwegen (11/5/10). Das bedeutet: Für das, was seit Sotschi als Staatsdoping Russlands akribisch dokumentiert wurde, büßt aktuell nur ein einziger Medaillengewinner - Alexander Subkow, damals Doppelsieger im Bob.

Als höhere Mathematik erscheint damit, was einst durchaus als olympische Orientierungshilfe dienen konnte. Betrogen wurde immer, nur nicht so viel korrigiert. Gut, zu Kürzel-Zeiten von DDR und BRD hatten die Schwimmerinnen aus dem Osten viel tiefere Stimmen als jene aus dem Westen (und manche auch ein Damenbärtchen). Und im Westen gab es in der Folge mysteriöse Todesfälle zu beweinen: die deutsche Siebenkämpferin Birgit Dressel, die US-Olympiasiegerin Florence Griffith- Joyner. Doch wer wollte, ignorierte alle Indizien und hatte es leichter, seine olympische Naivität zu pflegen.

Und heute? Nicht wenige wie Alfons Hörmann, der Chef des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), äußern die Hoffnung, dass der Sport aus der Sotschi-Affäre viel gelernt habe, Fairplay müsse "zum Markenzeichen der Pyeongchang-Spiele werden". Die Edelmetall-Tabelle jedoch, das alte Ding, fällt als jedweder Gradmesser aus. Denn was heute in Südkorea an Medaillen addiert wird, dürfte bis zum Winter 2022 im Smog der Peking-Spiele längst noch nicht bestätigt sein. Dazu musste der Medaillenspiegel nicht einmal abgeschafft werden per Dekret. Das hat er schon ganz allein geschafft.

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