Kommentar:Freigegeben frühestens ab 18

Die Franzosen wollten bei der EM auch ihre Trauer über den Terror verdrängen. Doch am ersten Wochenende gab es viel zu viele fiese Bilder von viel zu vielen miesen Gästen. Über eine EM im Reizklima.

Von Klaus Hoeltzenbein

Als in Marseille kurzfristig Fußball gespielt wurde und plötzlich dieser laute Knall zu hören war, zuckte Europa zusammen. Im Stadion - und vor dem Fernseher auf dem Sofa. Es war ein Knall, wie er am 13. November in Paris zu hören war, während Frankreich gegen Deutschland antrat und sich die Terroristen vor dem Stade de France in die Luft sprengten. Nur dass der Knall vom Samstagabend nicht durch die Stadionmauern gedämpft, sondern durch die Innenraum-Mikrofone noch verstärkt wurde. Der ZDF-Reporter sagte dazu den ratlosen Satz, dass man "das nicht mehr hören wolle", erinnerte an jene Terrornacht von Paris, erwähnte aber auch, dass die Kontrollen vor dem Hochrisikospiel Russland gegen England nicht besonders konsequent gewesen seien.

Jetzt müssen sich Frankreichs Sicherheitsorgane mit dem Vorwurf befassen, sie hätten die Lage unterschätzt, sie hätten sich international mit den szenekundigen Beamten nicht koordiniert. Wenn 67 347 Zuschauer dann wie in Marseille ins Stadion drängen, ist es für eine effektive Körperkontrolle auf der Suche nach Knall- und Krawall-Gerät oft zu spät.

In diesem Klima hat die EM begonnen. In diesem Reizgas- und Pfefferspray-Klima muss sie durchhalten, vier ewige Wochen lang, und eigentlich hat sie kaum eine Chance. Gegen das Comeback der volltrunkenen Hooligans. Gegen die Spielverderber. Gegen die Brutalo-Minderheiten. Gegen all die Chaoten, die (aus vielfältigen Motiven, die es präzise zu analysieren gilt) der großen Mehrheit, die im Sport Ablenkung, Trost und Freude sucht, die Präsenz ihrer brutalen Bilder aufzuzwingen versuchen.

Was davon gesendet, was weggelassen wird, müssen die Medien beantworten. Das führt zu sehr unterschiedlichen Präsentationen, kurz hintereinander, auf dem selben Kanal. Denn wenn Fußball gespielt wird, sind die übertragenden Sender auf die Bilder der Weltregie im Auftrag des Europäischen Fußball-Verbandes (Uefa) angewiesen. Die Weltregie musste sich schon bei früheren Turnieren den Vorwurf der Zensur gefallen lassen. Am Samstagabend unterließ sie es, die russischen Fans in Marseille dabei zu verfolgen, wie sie in den englischen Block stürmten.

Stattdessen legten die Öffentlich-Rechtlichen einen Zahn zu. Eingerahmt wurden jene Uefa-Szenen aus einer vermeintlich bunten Stadionwelt von den diversen Nachrichtensendungen. Und bei ARD und ZDF hatte man sich offenbar dazu entschlossen, dieses Mal ganz nah ran und voll drauf zu halten. Wann wurde je zuvor Reality-TV so authentisch umgesetzt und ein Mordversuch derart scharf ins Bild gerückt?

Immer wieder wurden zu kinderfreundlichen Nachrichtenzeiten jene Szenen wiederholt, in denen die Stühle ins Kreuz flogen und ein Irrer mit Hut einem am Boden Liegenden mehrmals auf den Kopf trat. Bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) wäre man mit einem Antrag auf Freigabe solcher Bilderserien selbst zu dokumentarischen Zwecken wohl gescheitert - ganz sicher für die unter 18-Jährigen.

Beklagt wurde zum EM-Auftakt auch, dass die Stimmung beim - sportlich unterhaltsamen - Eröffnungsspiel Frankreichs gegen Rumänen in Paris nicht gar so ausgelassen gewesen sei. Was erwartet man eigentlich noch von den Gastgebern? Dass auf die Marseillaise wie auf Knopfdruck sofort die Polonaise folgt? Die Franzosen wollten auch ein Fest zur Überwindung ihrer Trauer feiern. Zum Auftakt gab es viel zu viele fiese Bilder von viel zu vielen miesen Gästen.

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