Kommentar:Die Kraft der Provinz

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Der deutsche Sport hat seine Kraft immer auch aus kleinen Biotopen gezogen. Dass die neue Leistungssportreform mehr zentralisieren will, ist also mindestens zweifelhaft.

Von Johannes Knuth

Der Speerwerfer Thomas Röhler hat nicht lange gezögert, als ihm vor einem Jahr die Gelegenheit zufiel, mal wieder etwas Neues zu wagen. Im internationalen Wettkampfkalender war eine Lücke aufgerissen, die Zeit war knapp, aber Röhler und sein Verein LC Jena schafften es, binnen sechs Wochen ihr eigenes Speerwurf-Meeting zu entwerfen. Am Wochenende fand es zum zweiten Mal statt, für Nachwuchs und Profis. Röhler organisierte, schrieb Autogramme, gewann nebenbei mit 83,64 Metern. Der 26-Jährige ist fünfmaliger deutscher Meister, Olympiasieger, er hätte längst zu renommierteren Standorten weiterziehen können. Aber er ist halt auch bodenständig, er mag Thüringen. Und warum umziehen, wenn er sich längst sein eigenes Leistungszentrum geschaffen hat? Made in Jena sozusagen.

Der deutsche Sport hat seine Kraft immer auch aus den kleinen Biotopen gezogen. Jenes von Reck-Olympiasieger Fabian Hambüchen, der nie in die Zielvorgaben eines Verbandes eingebunden war, sondern Leistungssport im Familienverbund betrieb, mit Vater, Mutter, Onkel, Freunden. Oder Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll, deren Königsweg es war, in der Provinz zu bleiben, bei Werner Daniels, der auch mal gegen die Lehrmeinung trainierte. Oder Röhler. Oder, oder, oder. So reiften Talente, so verwandelten sich junge Menschen in Persönlichkeiten, die selbst entschieden, ob sie sich irgendwann an einen Stützpunkt vermitteln ließen. Oder auch nicht. Es klingt staubig, aber so wuchsen auch: Vorbilder, die viermal pro Woche im selben Schwimmbecken mit dem Nachwuchs trainierten. Als Signal: "Das kann ich auch schaffen", wie Weltrekordhalter Paul Biedermann zuletzt sagte. Und damit den aktuellen Cheftrainer Henning Lambertz kritisierte.

Lambertz mag offenkundig keine Biotope. Er will zentralisieren, so, wie es der deutsche Sport mit seiner Leistungsreform vorhat. Er will Talente auf dem gleichen Acker ausstreuen, mit verbindlichen Kraftplänen pflegen, um irgendwann Medaillen zu ernten. Wer nicht mitzieht, verliert schon mal seine Förderstelle. Irgendwas müsse man ja ändern, hat Lambertz sich jetzt verteidigt. Kann man so machen. Nur, wie soll sich da die von Lambertz erhoffte "Aufbruchstimmung" entfalten, wenn man Sportlern ein Konzept aufschnallt, das nicht das Individuum in den Mittelpunkt rückt, sondern Medaillen vom Reißbrett?

Es ist legitim, dass ein Sport nach Besserung strebt. Aber wer Spitzenkräfte entwurzelt, womöglich zu Befehlsempfängern degradiert, der trainiert ihnen die Mündigkeit ab. Der erstickt den Gedanken, den viele Athleten in sich tragen: Ich mache das alles für mich. Deshalb trainieren sie, schwitzen, studieren, deshalb schultern sie den Umstand, dass sie in der olympischen Mittelschicht (und oft auch darüber) mit amateurhaftem Lohn professionelle Leistungen erschaffen sollen. Auch deshalb reifen Vorbilder, die andere in ihren Sport ziehen, in Jena, Offenburg, Halle/Saale. Egal, ob sie Medaillen gewinnen oder nicht.

© SZ vom 13.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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