Kommentar:David aus Fljótsdalshérað

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Die biblische Außenseitergeschichte? Ist verglichen mit Islands Sieg eine Allerwelts-Sensation.

Von Claudio Catuogno

Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Spott dazu #ENGISL - das wäre jetzt auch so ein Spruch, mit dem man die Lage der Engländer bündig zusammenfassen könnte. Es gibt ja kein Fußballspiel mehr, das in der digitalen Witzecke nicht auf 140 Zeichen runtergebrochen und mit Hashtags versehen würde. England und der Fußball, das war immer schon Gegenstand für Scherze, nicht zuletzt bei einem Pint Ale im Pub um die Ecke. Heute teilt man seine Gemeinheiten mit der Community, deshalb lachen die Leute von Oslo bis Lissabon jetzt über die gleichen Engländer-Witze. Und die Leute in Reykjavik, Akureyri und Fljótsdalshérað lachen besonders laut mit.

Dass die Engländer das mit dem Brexit wenigstens konsequent durchziehen, ist noch der erwartbarste Gedanke in all den Posts und Tweets. Er kommt in allen Varianten. Etwa als Fotowitz, in dem sich der Stürmer "Gudjohnsen" und der Londoner Ex-Bürgermeister und Brexit-Anführer "Bad Johnson" gegenüberstehen. Oder in Form des Hinweises, dass jetzt erneut die über 65-Jährigen für ein Ausscheiden aus Europa beschuldigt werden - dazu ein Bild des Trainers Roy Hodgson, 68. Außerdem beliebt: alles mit Vulkanen, Pinguinen (gibt es die nicht eher in der Antarktis?) sowie der Schnappschuss eines "isländischen Autokorsos" (drei Schafe).

Es gab doch eine Warnung: In der Qualifikation wurden die Niederlande ausgeschaltet

Der eingangs erwähnte Bonmot-Klassiker von Jürgen Wegmann, in dessen Originalfassung zu keinem Glück noch Pech dazu kam, passt aber in Wahrheit gar nicht zu dieser größten Pleite in der englischen Fußballgeschichte. Eher ist es so, dass zu Selbstüberschätzung auch noch eine kolossale Unterschätzung dieser Mentalitäts-Truppe vom Polarkreis dazu kam, die ja nicht ohne Grund bei dieser EM für Furore sorgen darf. Sondern, weil sie in der Qualifikation unter anderem, Achtung: die Niederlande hinter sich gelassen hat. Doch, Fußball kann sehr witzig sein.

Manchmal erzählt eine Pointe tatsächlich mehr als jede Ballbesitzstatistik. So findet sich im Netz auch eine Aufschlüsselung, wie viele Fußballer den Isländern überhaupt zur Verfügung stehen. Ausgangspunkt sind die 334 319 Einwohner der Insel, davon werden all jene abgezogen, die für einen Einsatz aus nachvollziehbaren Gründen nicht infrage kamen: Frauen (170 503), beim Walfang Unabkömmliche (788), Vulkan-Beobachter in ständiger Bereitschaft (321), Einbeinige (189) und so weiter, dazu 8781 isländische Fans im Stadion sowie Teamarzt, Koch und Masseur (3). Bleiben übrig: 23.

Die Engländer brauchen viel Selbstironie, um das jetzt alles auszuhalten

Die Zahlen sind hingetrickst, sie müssen sich der Pointe unterordnen. Die Wahrheit könnten sie trotzdem nicht besser illustrieren. Im Gastgeberland Frankreich ist gerade der Hinweis en vogue, dass Island so groß sei wie Korsika, in Großbritannien ist eher der Londoner Vorort Lewisham die Vergleichsgröße. In jedem Fall ist Island das kleinste Land, das bei einer EM je mitgespielt hat. Die Geschichte vom David, der Goliath mit seiner Steinschleuder eins an die Stirn gibt, ist nur eine Allerwelts-Sensation verglichen mit dem, was die Isländer in Nizza vollbracht haben.

Fußball kann aber auch ein bisschen tragisch sein. Die gegenwärtige englische Fußball-Generation galt als die vielversprechendste seit David und Goliath, jetzt lebt sie für den Rest ihrer Karriere mit diesem Makel. Wo warst du, als Island gegen England gewann? Auf dem Platz. Ha, ha! Es bedarf einer ganzen Menge Selbstironie, das jetzt auszuhalten. Es wäre aber auch Selbsterkenntnis nötig, damit die Geschichte vom englischen Scheitern nicht in der Endlosschleife verharrt.

© SZ vom 29.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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