Kommentar:Abschied vom Jo-Jo-Effekt

Die Normen im deutschen Schwimmen erinnern seit Jahrzehnten an Diäten in Frauenzeitschriften - mal rauf, mal runter. Immerhin ist dieses Spiel mit Qualifikationskriterien bald Vergangenheit. Trotzdem haben die Deutschen viel zu bereden, wenn sie zurück sind.

Von Claudio Catuogno

Worüber spricht man lieber: über Rekorde - oder über Qualifikationsnormen? Okay, rhetorische Frage. Wenn man nicht gerade einen Normen-Fetisch hat, dann sind Qualifikationsnormen so ziemlich das am wenigsten prickelnde Thema im Sport. Deshalb hat es den Chefbundestrainer Henning Lambertz auch gestört, dass am Freitag bei der WM in Budapest alle über einen Wutausbruch des Schwimmers Philip Heintz sprachen, der sich durch die Normen des Deutschen Schwimm-Verbands (DSV) um eine WM-Medaille gebracht sah - während Aliena Schmidtke am selben Tag zweimal die nationale Bestmarke über 50 Meter Schmetterling verbesserte! "Keiner redet über das Mädel, das hier deutschen Rekord schwimmt, sondern wir reden schon wieder nur negativ", sagte Lambertz, "das ist total ermüdend."

Nun muss man allerdings dazusagen, dass es Lambertz selbst war, der eine Strecke wie die 50 Meter Schmetterling für weitgehend irrelevant erklärt hat. Sie ist nicht im olympischen Programm. Und abgerechnet wird bekanntlich 2020 in Tokio, bei den Spielen. Die beiden Finalteilnahmen von Aliena Schmidtke mögen - neben WM-Silber für Franziska Hentke über 200 Meter Schmetterling - die individuelle Erfolgsgeschichte im deutschen WM-Kader sein. Die Frage, die sich nach acht Tagen im Becken von Budapest stellt, ist trotzdem eher, auf welchem Weg das deutsche Schwimmen insgesamt ist. Und da muss man wenigstens kurz über Qualifikationsnormen sprechen.

Die Normen im deutschen Schwimmen erinnern einen seit Jahrzehnten an diese Diäten in Frauenzeitschriften ("40 Kilo weg in drei Tagen mit Ananaspulver" o. Ä.). Mal gehen sie hoch, dann gehen sie wieder runter, und weder mit dem einen noch mit dem anderen Zustand ist man zufrieden. Der Jo-Jo-Effekt des deutschen Schwimmens.

Die Politik will nur noch Sportler mit "Finalchance" entsenden

Verfechter harter Normen sagen: Man muss den Leuten extrem ambitionierte Vorgaben setzen, um größtmögliche Leistungssteigerungen herauszukitzeln. Verfechter weicherer Normen sagen: Wenn man Sportlern unerreichbare Vorgaben macht, frustriert man sie eher - und verliert dann womöglich jene Talente, die irgendwann mal eine Medaille gewinnen könnten. Viele Bundestrainer haben mal diese, mal jene Philosophie verfolgt. Auch Henning Lambertz hat, als er 2013 anfing, erst die Normen gesenkt und dann wieder sukzessive angehoben. Inzwischen sind sie extrem streng - jeweils die Finalzeit des Achtplatzierten der Rio-Spiele.

Das ewige Jo-Jo-Spiel mit den Normen ist allerdings bald Geschichte. Die Politik und der Dachverband DOSB stellen gerade ihre Förderung um, sie wollen mit ihrer umstrittenen Strukturreform in Zukunft gezielter die Medaillenproduktion unterstützen, weniger die Entwicklung in der Breite. Deshalb darf der DSV gar nicht im großen Stil Athleten mit zu einer WM nehmen, die nicht wenigstens eine "Finalchance" nachweisen. Ausnahmen gibt es im Schwimmen bisher für jüngere Sportler, damit die Erfahrungen sammeln. Sehr viel mehr Gestaltungsspielraum hat der Chefbundestrainer aber nicht.

Kritikfähigkeit, Vertrauen - es gibt diverse Streitthemen

Was der DSV allerdings beeinflussen kann, ist die Frage, wann die hohe Hürde übersprungen werden muss. Darauf zielte die harsche Kritik von Philip Heintz. Erst Anfang des Jahres, als die Trainingspläne längst geschrieben waren, hatte der DSV seine WM-Qualifikation terminiert: fünf Wochen vor Budapest. Das warf bei einigen die Planungen durcheinander, etwa bei Heintz und seinem Trainer Michael Spikermann. Um die harte Norm zu schaffen, ging Heintz vor der deutschen Meisterschaft ins Höhentrainingslager. Ergebnis: 1:55,76 Minuten über 200 Meter Lagen. Weltjahresbestzeit. Davon hatten nun aber weder Heintz noch Lambertz etwas. Das Problem war, dass Heintz die punktgenaue Vorbereitung in der sauerstoffarmen Luft nicht noch einmal realisieren konnte. Seine Zeit nun in Budapest: 1:57,43. Rang sieben.

Wie hält man seine Form? Wie baut man sie neu auf? Darüber kann man streiten. 2011 in Shanghai etwa, als fünf deutsche Medaillen noch als Enttäuschung galten, lagen acht Wochen zwischen Qualifikation und WM. Danach klagten manche Trainer: Das konnte ja nicht klappen!

Und nun die gute Nachricht: Vom nächsten Jahr an will Henning Lambertz eine ganze Reihe Wettkämpfe für die Qualifikation zulassen, nicht mehr nur die DM. Jeder Schwimmer kann dann mit seinem Trainer individuell entscheiden, welche Periodisierung er wählt. Qualifiziert er sich schon im Frühjahr und bereitet dann das Großereignis erneut in der Höhe vor? Oder qualifiziert er sich erst kurz vor WM/EM/Olympia und rettet die Form hinüber? Der neue Modus, den die Leichtathleten seit Langem kennen, wäre das Ende eines ewigen Streitthemas. Der Abschied vom Jo-Jo-Effekt.

Man konnte aus Philip Heintz' öffentlicher Kritik allerdings noch ein paar andere Streitthemen heraushören. Man solle "nicht hinterm Rücken irgendwelche Sticheleien ausüben", man solle "die Leute, die schon öfter gezeigt haben, dass sie Leistung bringen, einfach mal in Ruhe arbeiten lassen", forderte er. Es geht da um Kritikfähigkeit, Vertrauen, das Zulassen unterschiedlicher Konzepte. Es gibt deshalb noch viel mehr zu besprechen als Rekorde und Normen, wenn die deutschen Schwimmer aus Budapest zurück sind.

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