Kolumbiens ermordeter Nationalspieler Escobar:Als sie dem Fußball die Unschuld raubten

Colombian defender Andres Escobar lies on the grou

Am 22. Juni 1994 unterlief Andrés Escobar beim Spiel gegen die Gastgeber ein Eigentor. Ihm wurde die Schuld für das spätere Ausscheiden zugeschoben.

(Foto: Romeo Gacad/Getty)

Als Andrés Escobar bei der WM 1994 ein Eigentor unterlief, ging nicht nur ein Spiel verloren. Der Kolumbianer bezahlte mit seinem Leben. 20 Jahre später erinnert sich das Land an dieses tragische Ereignis und hofft, die Tage der Gewalt endlich hinter sich zu lassen.

Von Peter Burghardt, São Paulo

Vielleicht wäre Andrés Escobar jetzt in Brasilien, wahrscheinlich sogar. Er würde vielleicht für einen der kolumbianischen Fernsehsender arbeiten und versuchen, den wundersamen Aufstieg der heimischen Auswahl zu erklären, diesen bisher schönsten Fußball der WM. Er würde sich befragen lassen wie Carlos Valderrama alias El Pibe, sein berühmtester Mitspieler aus seiner Zeit. Vermutlich würde er wie Millionen Kolumbianer eines dieser leuchtend gelben Trikots tragen - auch Präsident Juan Manuel Santos bejubelt so die Tore von James Rodríguez und den anderen, es geht um eine nationale Mission.

Doch Andrés Escobar Saldarriaga liegt seit 20 Jahren in einem Grab in Medellín, wo er am 13. März 1967 geboren und am 2. Juli 1994 erschossen wurde.

Gerade gerät die Tragödie wieder in Erinnerung, weil sich der Mord an diesem Mittwoch zwei Jahrzehnte jährt, da war die Dopingaffäre Maradona kurz zuvor vergleichsweise eine Petitesse. Die Causa Escobar ist der alte Kontrast zum neuen Kolumbien dieser Tage, auch wenn das ganz so leider nicht stimmt, denn noch immer ist das wunderbare Land zwischen Amazonien, Anden, Atlantik und Pazifik auch ein Hort der Gewalt.

Selbst während der Volksfeste nach dem rauschenden 2:0-Sieg durch die Treffer des Wunderkindes Rodríguez wurden wieder mehrere Menschen getötet, wobei die Polizei in Bogotá den Hinweis wichtig fand, dass das mit dem Team nichts zu tun gehabt habe. Aber bei Andrés Escobar hatte es damit zu tun, mit ihm bekam das Wort Eigentor eine fürchterliche Bedeutung.

Der Innenverteidiger von Atlético Nacional aus Medellín gehörte zu den Routiniers und Kolumbien zu den Favoriten, als 1994 die WM in den USA begann. Escobar war 1990 im damals historischen Achtelfinale in Italien dabei gewesen und hatte zwischendurch eine Saison bei Young Boys Bern in der Schweiz gespielt, ein zuverlässiger und seriöser Abwehrmann.

Als Berater betreute ihn eine Zeitlang der Münchner Dieter Langhans, seinen ersten Länderspieltreffer hatte er 1988 im Wembley-Stadion erzielt. Doch dann verloren die Kolumbianer ihr erstes Gruppenspiel gegen Rumänien, und im Rose Bowl von Los Angeles folgte am 22. Juni 1994 jene Szene, deren Konsequenzen dem Fußball die allerletzte Unschuld raubten.

"Mami, Andrés werden sie umbringen"

World Cup 1998

Vier Jahre nach dem Mord erinnerten Fans bei der WM 1998 an den Spieler Andrés Escobar.

(Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Ein Angriff der USA kam über links in den kolumbianischen Strafraum, Escobar rutschte mit der Nummer 2 auf dem Rücken in die Hereingabe und trat den Ball ins eigene Netz, Torwart Óscar Córdoba hatte keine Chance. Es war das 0:1, am Ende unterlag Kolumbien 1:2 und schied trotz eines folgenden Sieges gegen die Schweiz aus. "Mami, Andrés werden sie umbringen", sagte damals sein Neffe Felipe vor dem Fernseher, und seine Schwester beruhigte: "Fußball ist nicht wie Stierkampf, hier stirbt niemand."

Zehn Tage später war der unglückliche Schütze tot. Mit gerade 27 Jahren. Vor einer Diskothek am Rande von Medellín beleidigte ihn eine Gestalt namens Humberto Muñoz Castro, und als Escobar ihn besänftigen wollte, zog der einen Revolver und drückte sechsmal ab. Der Schwerverletzte starb auf dem Weg ins Krankenhaus, Kolumbien stand still. War dieser verdammte Fußball ein Menschenleben wert? War das Gemetzel von Armee, Guerilla, Paramilitärs und Drogenmafia nicht schlimm genug? Kurz zuvor hatte Escobar noch in der Zeitung El Tiempo um Respekt gebeten, "das Leben geht weiter".

Er habe sich erstmals geschämt, Kolumbianer zu sein, berichtete der Journalist Enrique Santos, Bruder des heutigen Staatschefs. "Es war ein traumatisches Ereignis, es bewegte das Land." Mehr als 100 000 Trauergäste begleiteten das Begräbnis auf dem Friedhof Campos de Paz, Felder des Friedens, darunter der Präsident César Gavíria. Erst ein gutes halbes Jahr vorher war auf einem anderen Gottesacker der Stadt der Kokainkönig Pablo Escobar beerdigt worden, ein Spezialtrupp hatte den seinerzeit meistgesuchten Verbrecher der Welt auf einem Dach niedergestreckt.

Die beiden Escobars waren nicht verwandt, doch der Mörder Muñoz soll Kontakte zu örtlichen Rauschgiftdealern und Todesschwadronen gehabt haben. Von einer wegen Andrés Escobars Missgeschick verlorenen Wette war die Rede, das ist die gängigste Theorie zum Tatmotiv. Kolumbiens Fußball befand sich in jenen finsteren Jahren fest im Griff der Drogenszene, die Kartelle von Medellín und Cali finanzierten das Spiel mit Bergen von Geld. Der Killer Muñoz wurde zu 43 Jahren Gefängnis verurteilt - und 2005 wegen guter Führung entlassen, mögliche Auftraggeber blieben im Dunkeln, das Übliche. Auch scheiterte ein kurzer Versuch, den Klubs mit mutmaßlichen Verbindungen zur Branche Titel aus jener Zeit abzuerkennen.

"Andrés Tod war ein Spiegel jener Epoche", glaubt der frühere Stürmer Freddy Rincón. Andrés Escobar bekam ein Denkmal in Medellín, auch ein Straßenfußballturnier ist nach ihm benannt. In der Gruft neben ihm ruht einer, der noch drei Jahre weniger lebte, und die Marmorplatte versichert, auch er sei Fußballer gewesen.

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