Kanu:Der Fahnenträger mit den Stechpaddel-Armen

Rio 2016 - Kanu

Der rechte nimmt mit, was der linke an Medaillen übrig lässt: Isaquias Queiroz dos Santos und Sebastian Brendel.

(Foto: dpa)

In einer gerechten Welt wäre Sebastian Brendel einer der populärsten deutschen Sportler. In der echten Welt wird er nur alle vier Jahre bejubelt.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Das Kanumärchen, von dem jetzt natürlich erzählt wird, beginnt mit einem Topf voll kochendem Wasser, das sich über einen dreijährigen Jungen ergießt. Die Verbrühungen sieht man bis heute. Als derselbe Junge zehn Jahre alt ist, fällt er so unglücklich von einem Baum, dass ihm eine Niere entfernt werden muss. Mit elf, so das Märchen weiter, beginnt er zu paddeln, der Sport verändert sein Leben. Und nun hat Isaquias Queiroz dos Santos, 22, tatsächlich mehr Medaillen bei diesen Spielen gewonnen als jeder andere Brasilianer. Zwei Mal Silber, einmal Bronze. Die deutschen Kanuten haben der Konkurrenz in Rio nicht viel zum Gewinnen übrig gelassen. Von dem, was übrig blieb, nimmt Queiroz das Meiste mit nach Hause.

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Wenn Brendel mitmacht, geht es für den Rest des Feldes bloß um Silber

Am Samstag, im Canadier-Zweier, paddelte Brasiliens neuer Kanuheld sogar die längste Zeit auf Goldkurs. Kurz vor dem Ziel schoss dann aber doch wieder eines dieser pinkfarbenen Boote des Deutschen Kanu-Verbandes (DKV) an ihm vorbei, indem diesmal Sebastian Brendel mit seinem Kollegen Jan Vandrey saß. Schon am Dienstag im Einer war es Queiroz ähnlich ergangen: guter Start, komfortable Führung - am Ende gewann Brendel. Wenn einer weiß, wie es sich anfühlt gegen einen Unbezwingbaren anzupaddeln, dann ist es dieser tapfere Isaquias Queiroz dos Santos aus der Kleinstadt Ubaitaba in Bahia. Er sagte: "Ich habe hier alles erreicht, was ich erreichen konnte." Er wusste aus Erfahrung: Wenn Brendel mitmacht, geht es für den Rest des Feldes bloß um Silber.

Selbstverständlich ist im Sport niemand unbezwingbar. Aber im Kanurennsport muss man lange suchen, bis man ein Rennen findet, in dem Sebastian Brendel, 28, aus Schwedt in Brandenburg von einem Gegner abgehängt wurde. Auf seiner Stammstrecke im Einer über 1000 Meter hat ihn seit 2013 keiner mehr besiegt.

Etwas überraschender war gewiss sein Olympiasieg im Zweier mit dem Kollegen Vandrey. Das Duo saß am Samstag überhaupt erst zum zweiten Mal in einem Wettkampf zusammen im Kanu. Brendel sagte: "Wir hatten vor drei Monaten noch gar nicht damit gerechnet, dass wir hier einen Zweier an den Start schicken." Erst nach einer Dopingsperre weißrussischer Kanuten wurden sie nachnominiert. Im Training lag der Fokus aber komplett auf dem Einer. Bloß ein, zwei Mal die Woche trafen sich die Brandenburger, um gemeinsam zu üben. Als es dann drauf ankam, lagen sie trotzdem wieder eine halbe Länge vor allen anderen. Vandrey erklärte das mit Blick auf seinen Nebenmann so: "Er kann's auf jeden Fall. Ich musste halt mitziehen."

Brendel bilanziert: "War wieder mal eine gute Saison"

Mit ihren insgesamt sieben Medaillen, darunter vier goldenen, waren die deutschen Kanuten wie gewohnt der erfolgreichste deutsche Sportverband bei diesen Spielen. Niemand aber verkörpert diese fast schon unheimliche Dominanz besser als der Ausnahmeathlet Brendel. Drei Olympiasiege, fünf Weltmeister- und neun Europameistertitel haben sich in seiner Karriere nun schon angesammelt. Nach seiner zweiten Goldmedaille von Rio bilanzierte er: "War wieder mal eine gute Saison." Entgegen zunächst anders lautenden Gerüchten will er noch mindestens vier Jahre dranhängen, bis zu den Spielen 2020 in Tokio. Die muntere Zählerei kann also weitergehen.

In einer gerechten Welt wäre Sebastian Brendel einer der populärsten deutschen Sportler. In der Welt, wie sie nun einmal ist, wird er alle vier Jahre kurz bejubelt, wenn er zur Rettung der Medaillenbilanz beiträgt. Danach kann er wieder ungestört in Brandenburg auf Wasserwanderschaft gehen. Das ist schon deshalb seltsam, weil dieser Brendel durchaus ein paar heldenhafte Züge hat, die sich bewundern, beziehungsweise vermarkten ließen. Es beginnt schon bei seiner Statur: 1,92 Meter groß, 92 Kilo schwer, Arme wie Stechpaddel, und wenn man im Kanustadion an der Lagoa Rodrigo de Freitas in diesen Tagen mal ein schattiges Plätzchen finden wollte, dann empfahl es sich, irgendwo hinter der Schulter dieses Mannes zu suchen.

Jan Vandrey, der Brendels ersten Olympiasieg in London noch vor dem Fernseher als Fan verfolgt hatte, sagt über seinen heutigen Teampartner: "Für mich ist er in gewissem Maße ein Vorbild." Damit ist nicht nur seine Schlagzahl im Kanu gemeint. Brendel gehört zum überschaubaren Grüppchen sogenannter mündiger Sportler. Er kritisiert offen die Strukturen im Kanuweltverband. Er fordert, dass dieser Traditionssport sich besser präsentieren muss, wenn er nicht unterhalb der Wahrnehmungsgrenze verschwinden will. Er eiert nicht rum beim Thema Doping. Nach seinem Sieg im Einer schoss er auf dem Treppchen ein Selfie, das er auf seiner Homepage veröffentlichte. Darauf waren auch der Brasilianer Queiroz sowie Serghei Tarnovschi aus Moldau zu sehen. Von dem Bronzemedaillengewinner ist inzwischen eine positive Dopingprobe aufgetaucht. Brendel retuschierte daraufhin den Kopf Tarnovschis aus dem Siegerfoto. Dieses aktualisierte Bild sagt mehr über den Zustand des modernen Spitzensportes aus, als man mit Worten erzählen könnte.

Vermutlich war das nicht der Grund, weshalb Sebastian Brendel zum deutschen Fahnenträger bei der Rio-Abschlussfeier im Maracanã bestimmt wurde. So oder so ist es eine gute Wahl.

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