Kampf gegen den Abstieg:Dino 3.0

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Am Ende einer weiteren wundersamen Saison rettet sich der Hamburger SV schon wieder auf epische Weise. Waldschmidts später Siegtreffer gegen Wolfsburg beglückt Verein und Fans.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Es wirkte, als absolvierte die Polizei gerade eine Übung für das im Juli in Hamburg vorgesehene G-20-Treffen der Weltpolitik. Die in einer Reihe aufgestellte Hundertschaft und fünf Pferde verhinderten, dass Tausende HSV-Anhänger, die nach dem Schlusspfiff den Rasen fluteten, dem mit 6000 Menschen gefüllten Fanblock des VfL Wolfsburg zu nahekamen. HSV-Keeper Christian Mathenia war nach der ersten Welle der Euphorie froh, "dass das Stadion noch steht". Bei seinem Kapitän Gotoku Sakai rannen Tränen der Erleichterung über das Gesicht. Trainer Markus Gisdol hatte sich mit seinen Assistenten Frank Kaspari und Frank Fröhlich auf dem Boden gekugelt und war danach in voller Montur ins Entmüdungsbecken gesprungen, während über einem TV-Reporter Bier ausgeschüttet wurde.

Ausgelöst hatte dieses Beben, das einer Meisterfeier ähnlich war, ein Kopfball zum 2:1 gegen den VfL Wolfsburg in der 88. Minute. Und zwar von einem Spieler, der in dieser Bundesliga-Saison zuvor erst 92 Minuten auf dem Platz gestanden hatte und nach eigener Aussage "gar nicht so der Kopfballspieler" ist: Gian-Luca Waldschmidt, am Tag zuvor gerade 21 Jahre alt geworden, hatte 110 Sekunden nach seiner Einwechslung eine Flanke von Filip Kostic mit dem Schädel in sein erstes Bundesliga-Tor verwandelt. Damit wurde das in Siegen geborene Talent nach Pierre-Michel Lasogga (Torschütze 2014 in der Relegation gegen Greuther Fürth) und Marcelo Díaz (Freistoß-Schütze 2015 in der Relegation gegen Karlsruhe) zum dritten HSV-Helden der vergangenen drei Jahre ausgerufen. "Krass", fand Waldschmidt, was er gerade erlebt hatte. Es sei "überwältigend" gewesen "mit den Fans hinter uns".

Auch Vorstand Heribert Bruchhagen wandte sich dem neuen Erlöser zu (die beiden haben eine gemeinsame Frankfurter Vergangenheit). Allerdings erst, nachdem der Klubchef eine Ode an weitere Retter losgeworden war. Die galt dem Trainer, den Zuschauern, "die uns getragen haben", den Vereinsgremien, die "gelernt" hätten, in heiklen Phasen stillzuhalten, ja sogar den heimischen Journalisten, die ebenfalls "ruhig geblieben" seien. Auch an seinen Vorgänger Dietmar Beiersdorfer dachte er wohlwollend, der von vielen als Schuldiger der Misere ausgemacht und im Winter entlassen wurde. Dann erst scherzte er, es sei ihm, als er als Boss von Eintracht Frankfurt dem damaligen U18-Nationalspieler Waldschmidt 2014 den ersten Profivertrag vorlegte, schon klar gewesen, dass dieser dereinst den HSV retten würde.

"Dino 3.0" nannte ein Fan dieses dritte HSV-Wunder in drei Jahren, mit dem erneut der erste Abstieg des Bundesliga- Dinosauriers vermieden wurde. Es war auch diesmal ein Mysterium, weil besonders die ersten 30 Minuten gegen Wolfsburg zur großen Zahl grausamer Saisonspiele gehörten. Torwart Mathenia verhinderte mindestens drei VfL-Treffer: In der 10. Minute lenkte er einen Schuss von Gomez um den Pfosten, dann dirigierte er Blaszczykowskis Geschoss über die Torlatte (22.), schließlich blockte er in der Nachspielzeit einen Ball von Arnold ab. Da ersparte Mathenia, der im Vorjahr zum Klassenerhalt von Darmstadt 98 beigetragen hatte, dem HSV die dritte Relegation seit 2014. Nur gegen das 0:1 durch einen Kopfball von Robin Knoche (23.) war er machtlos.

Waldschmidt löste noch ganz andere Phänomene aus. Er sorgte auch dafür, dass desorientierte Ordner im Getümmel nach dem Schlusspfiff seine Kollegen Lasogga, Aaron Hunt und Finn Porath nicht zum Team lassen wollten, weil sie das verletzte Trio für Störenfriede hielten und nicht für HSV-Profis. Zudem trug Waldschmidt dazu bei, dass Kostic, Torschütze zum 1:1 in der 32. Minute, nicht zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres absteigen muss. 2016 war der flinke Serbe, der teuerste Zugang der HSV-Historie, mit dem VfB Stuttgart abgestürzt. Und Waldschmidt stützte als erfolgreicher Joker offenbar Gisdols These, dass die Hamburger trotz etlicher Misserfolge ein Team geworden sind.

Vor allem aber schaffte es der Torschütze, dass aus Markus Gisdol alles herausbrach, was sich in acht Monaten als Trainer des HSV angesammelt hatte. Er sei ausgepresst wie eine Zitrone, bekannte der Schwabe, "leer", schlafen können habe er zuletzt auch nicht. Alles habe man in den vergangenen Monaten durchgeplant, doch nun, nachdem die acht Monate und die vielen Endspiele vorbei seien, sei es ihm egal, was heute noch passiere. Gisdol hat zum zweiten Mal einen solchen Kraftakt vollbracht. 2013 rettete er die TSG Hoffenheim in der Relegation und nun den HSV, der nach zehn Spielen mit zwei Punkten "tot und erledigt" gewesen sei.

Man habe Geschichte geschrieben, weil kein Klub zuvor sich aus so einer Lage noch befreien konnte, findet Gisdol. Aber eine Mannschaft, die in solchen Schwierigkeiten stecke, wolle er nie wieder übernehmen. Da sei er "zu gutgläubig" gewesen. Andererseits hat er "mit dieser richtig großen Trainerleistung", so HSV-Sportchef Jens Todt, womöglich die Grundlage geschaffen, eine andere HSV-Geschichte anzufangen, in der ausnahmsweise mal nicht vom Abstieg die Rede ist. 53 Jahre und 269 Tage zeigte die Bundesliga-Uhr des HSV am Samstag an. Sie wird weiterlaufen. Und das, was Gisdol bei seinem Amtsantritt im September als "dickes Brett" bezeichnet hatte, präzisierte er nun: Der HSV, befand er, sei ein "richtiges Schwergewicht".

© SZ vom 22.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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