Judo:Die Hoffnung von der Rua Agostinho

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Rafaela Silva.

Brasiliens Judokas sollen dem Gastgeberland das erste Gold bescheren - vor allem auf Rafaela Silva, die 24-jährige Weltmeisterin von 2010, die in einer Favela groß wurde, sind die gewaltigen Erwartungen gerichtet.

Von Johannes Knuth

Wenn man nicht aufpasst, fährt man einfach dran vorbei. Dann schiebt man sich die Stadtautobahn hinunter, die sie durch die Berge im Westen von Rio de Janeiro geschlagen haben, weiter bis ans dunkelblaue Meer. Rechts, kurz hinter dem Tunnel, fast unbemerkt vom nervösen Verkehr, ruht die Cidade de Deus, die Stadt Gottes. Rote, unverputzte Backsteinbauten, Wellblechdächer, ein Stadtteil, der im Aufbau zu sein scheint und schon wieder zerfällt. Die Häuser haben sich ineinander verkeilt, so eng ist es, manche Bauten drängeln sich bis an die Autobahn. Eine Wand aus Hartplastik trennt Wohnzimmer von der sechsspurigen Autobahn, vor den Fenstern baumeln Wäscheleinen mit bunter Kleidung. Es gibt kein Schild, das erzählt, wer oder was hinter dieser Wand ruht. Keine Ausfahrt.

Das erste Wochenende bei den Olympischen Spielen ist immer ein wichtiges, vor allem für die Gastgeber. Die ersten Tage können die Spiele in viele verschiedene Richtungen lenken, in gute und weniger gute, und deshalb kommt es an diesem Wochenende besonders auf die brasilianischen Judoka an. Dort haben sie eine kleine, feine Kultur gepflegt, gewässert, kultiviert, nicht im Fußball, sondern im Judo haben sie bei Olympia die meisten Medaillen erstanden, 19 seit 1972, darunter drei goldene. Sarah Menezes gewann die vorerst letzte, 2012 war das, sie steigt am Samstag in der Klasse bis 48 Kilogramm ins Turnier ein. Am Montag ist dann Rafaela Silva dran, Weltmeisterin von 2013 (bis 57 kg), aber das ist nicht der einzige Grund, warum viele auf sie schauen werden. In Brasilien, vor allem aber in Rio und natürlich der Stadt Gottes.

Jeder Fünfte von Rios 6,3 Millionen Einwohner lebt in einer Favela, einem Armenviertel, und Rafaela Silva wurde in einer davon groß, in der Cidade de Deus, einem der gewalttätigsten Viertel der Metropole. Wenn man dieses rotgraue Labyrinth hinter sich lässt und der Schnelltrasse bis ans Meer folgt, baut sich bald die Glitzerwelt der Oberschicht auf. Weiße, mit Glas verspiegelte Bürogebäude, Hotels, jede Straße so breit wie eine Autobahn, das Gras saftig und uniform getrimmt wie auf dem Golfplatz. In dieses Biotop haben sie in Rio ihren Olympiapark hineingepflanzt. Und dort, in der "Carioca Arena" von Barra, wird Rafaela Silva versuchen, eine Goldmedaille zu gewinnen, nicht mal zehn Kilometer entfernt von der Rua Agostinho Gama und ihrer Favela, in der sie aufwuchs.

Die Rua Agostinho liegt gleich neben der Stadt Gottes, Silvas Familie zog dorthin, als Rafaela und ihre Schwester Raquel auf die Sekundarschule wechselten. Sie wollten nicht, dass ihre Kinder zwischen Drogendealern und Dieben zur Schule gehen, die viele Kinder als Späher rekrutieren. Hier, auf der anderen Seite, trauten sich die Dealer und Diebe nicht so recht her, es gibt viele Sackgassen, kaum Fluchtwege. Aber gefährlich ist es trotzdem, klar. Und diese Hoffnungslosigkeit bleibt weiter an einem hängen, sie packt einen immer. Egal, ob man vor ihr flüchtet oder verharrt und sich von ihr auffressen lässt. Raquel und Rafaela trafen sich nach der Schule oft auf dem Nachhauseweg, wenn Raquel ihre Schwester erspähte, steckte die oft schon in einer Prügelei. "Wenn du hier nicht zuschlägst", hat Raquel Silva neulich der New York Times erzählt, "dann schlägt dich jemand anderes."

Silvas Eltern fanden dann doch einen Ausweg, bei Geraldo Bernardes. Ein ehemaliger Judo-Nationaltrainer, der das Instituto Reação betreibt, eine Schule für 1200 Judoka in Rocinha, Rios größte Favela. Japanische Einwanderer hatten den Sport einst nach Brasilien importiert, mittlerweile gibt es 2,5 Millionen Aktive, rund 40 000 Leistungssportler. Die Silvas kamen vor zehn Jahren zu Bernardes. Sie waren frech, aggressiv, "aber in einer Weise, dass ich diese Aggressivität in den Sport überführen konnte", erinnert sich Bernardes. Und sie wollten schnell besser werden. "Im Judo muss man viel opfern", sagt Bernardes, "aber in einer armen Gemeinde sind sie es gewohnt, zu opfern. Sie sehen viel Gewalt, haben wenig zu essen, deshalb wollen sie etwas Besseres."

Ihre Mutter verkauft in ihrem kleinen Laden noch immer Seife und Propangas

Bernardes ließ die Geschwister nur für die obligatorischen Gürtelprüfungen zu, wenn sie sich auf der Straße nicht mehr prügeln würden. Es funktionierte. Er bezahlte ihnen Essen, Training, die Reisen zu den Wettkämpfen. Sie wuchsen in den Sport hinein, mit Regeln, wo es vorher keine gab, mit Abwechslung statt Hoffnungslosigkeit. Raquel wurde mit 15 schwanger und fiel für eine Weile aus dem Sport, aber Rafaela wurde mit 16 Juniorenweltmeisterin, mit 19 gewann sie WM-Silber, 2013 dann Gold. Vielleicht hätte sie heute, mit 24, schon alles gewonnen - wenn da nicht Olympia 2012 in London gewesen wäre, als Silva einen unerlaubten Griff zeigte und in der Vorrunde ausschied. Kurz darauf brachen in der Heimat alte Wunden des Rassismus auf, aus denen hässliche Worte hervorquollen; ein Nutzer warf ihr in den sozialen Medien sinngemäß an den Kopf, wie unfähig sie als Dunkelhäutige sei. Das brasilianische Olympia-Komitee schritt ein, Silva verkroch sich monatelang zu Hause. Erst, als sie wieder bei Bernardes vorstellig wurde, fand sie zurück in den Sport. Ein Jahr später war sie Weltmeisterin.

Am Montag wird Rafaela Silva versuchen, die eine Medaille zu holen, die ihr noch fehlt, vor den Toren ihrer Favela. Ihre Mutter, die dort in einem kleinen Laden Seife und Propangas verkauft, wird versuchen, ein Ticket zu ergattern, wie ihr Vater, ein Möbelpacker. Raquel, die sich nicht qualifiziert hat, wird ihre Sparringspartnerin sein. Und Rafaela wird sich an ihre Chance klammern bis zur letzten Sekunde. Weil sie weiß, dass man das wenige Gute, das einem über den Weg läuft, festhalten muss.

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