Judo:Das Ende der verlorenen Tage

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Besser er fährt angeschlagen nach Rio als gar keiner: Als bester deutscher Superleichtgewichtler hat sich Tobias Englmaier für die Sommerspiele qualifiziert, obwohl zuletzt nur einen internationalen Wettkampf bestreiten konnte. (Foto: imago/GEPA pictures)

Tobias Englmaier hat sich trotz schwerer Verletzungen für Olympia qualifiziert.

Von Julian Ignatowitsch

Das Knie bestimmt den Tagesablauf: Wenn der Judoka Tobias Englmaier in diesen Tagen aufwacht, dann betastet er erst mal seinen wunden Punkt, der ihm in den vergangenen Monaten soviel Kopfzerbrechen und Schmerzen bereitet hat. Bin ich schmerzfrei? Hält das Knie? Das fragt er sich jeden Tag, mehrmals. Je nachdem, wie fit er sich fühlt, steht er dann zum Training auf der Matte, oder liegt beim medizinischen Personal auf der Pritsche. "Ich war die letzten Wochen fast jeden zweiten Tag beim Arzt oder Physiotherapeut", sagt er. Immerhin gab es zuletzt gute Nachrichten: "Der Arzt sagt, das Knie hält."

Nach einer schweren Verletzung ist so ein vorsichtiges Aufbauprogramm ganz normal. Tobias Englmaier, 28, vom TSV Großhadern allerdings befindet sich in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele - und ihm rennt die Zeit davon. Jeder Tag ohne Fortschritt ist ein verlorener Tag. "Es geht darum, wieder ins Judo reinzukommen, ein Gefühl zu entwickeln und dem Knie zu vertrauen", erklärt er. "So schnell wie möglich."

Als bester deutscher Superleichtgewichtler (bis 60 kg) hat sich Englmaier für die Sommerspiele qualifiziert, obwohl er in den zurückliegenden zwölf Monaten nur einen internationalen Wettkampf bestreiten konnte. Das zeigt den Vorsprung, den er in seiner Gewichtsklasse vor den anderen deutschen Athleten besitzt: Besser fährt er angeschlagen nach Rio als gar keiner. Drei Trainingslager hat er bereits mit der Mannschaft absolviert, um sich auf Wettkampfniveau zu bringen. "Es gilt, die richtige Mischung zwischen Be- und Entlastung zu finden", erklärt Landestrainer Ralf Matusche. Doch das ist in diesem Fall nicht so einfach, wie es klingt.

Englmaier hat ein extrem schweres Jahr hinter sich. Eine Zeit, die man keinem Sportler wünscht, in der er sich quälte, zweifelte und immer wieder zurückgeworfen wurde. Im vergangenen Sommer riss das Innenband im Knie, ausgerechnet in einer für ihn sehr erfolgreichen Phase: Englmaier gewann vier Medaillen bei internationalen Turnieren, er war in der Form seines Lebens und dachte auch schon mal an die Sommerspiele. Eine Medaille dort schien realistisch. Im Februar gab er sein Comeback beim Grand Prix in Paris mit einem passablen siebten Platz.

Er war wieder im Plan. Doch kurz darauf riss das Innenband, zum zweiten Mal. "Die Verletzung war wohl noch nicht komplett verheilt", sagt er. Die Leidenszeit ging weiter. Die Olympischen Spiele waren erst mal kein Thema mehr. Aus der Ferne musste er zuschauen, wie die internationalen Konkurrenten Punkte sammelten - und damit seine Olympia-Teilnahme unwahrscheinlicher machten. Wer Englmaier damals begegnete, sah einen Sportler, dem sein Sport mehr als alles andere fehlte. Seine Teamkollegen feuerte er bei Wettkämpfen als Zuschauer an - und vollzog jede Körperbewegung so mit, als würde er selbst kämpfen. Er kämpfte ja auch. Nur nicht auf der Matte, sondern gegen den eigenen Körper und die eigene Psyche. Doch es war ein Kampf, den er am Ende gewann: Die guten Ergebnisse aus dem Vorjahr reichten, Englmaier qualifizierte sich knapp. Und das Knie ist auch wieder stabil, trotz gelegentlicher Schmerzen. Englmaier sagt: "Bis zum Start werde ich topfit sein."

Er spricht offen darüber, dass er nun schon länger mit einer Sportpsychologin zusammenarbeitet. Was in anderen Sportarten längst normal ist, das ist im Judo nach wie vor die Ausnahme und "eher nicht gewollt", wie er sagt. Schwäche zu zeigen, über Ängste und Sorgen zu reden, das sei im Kampfsport nach wie vor ein Tabu. Englmaier wird trotzdem gleich am ersten Tag der Spiele mit seiner Psychologin in Deutschland skypen. "Mir tut das gut, mir hilft das", sagt er, "ich fühle mich danach, als könnte ich die Welt zerreißen."

Früher war er vor Kämpfen oft nervös und wurde hektisch, wenn es nicht lief

Der Münchner wirkt nach seiner Verletzungszeit gereift, weiter als davor. Er spricht selbstreflektiert und ehrlich über die vergangenen Monate, denkt sogar an ein "Karriereende nach diesem Jahr". Mehr als 20 Jahre Judo haben Spuren hinterlassen, nicht nur am Knie. Sicher scheint, dass die Olympischen Spiele 2016 sein letzter großer sportlicher Auftritt sein werden - "und den möchte ich genießen".

Früher war er vor Kämpfen oft nervös, wurde währenddessen hektisch, wenn es nicht lief. So wie 2012 bei den Sommerspielen in London, als er gegen den Armenier Howhannes Dawtjan in der ersten Runde der Favorit war, aber ausschied. Er habe nach den Erlebnissen des letzten Jahres keine allzu großen Erwartungen - und hat doch großes Vertrauen in seine Stärke. Tobias Englmaier, der den Kampf gegen seine Psyche und seinen Körper gewonnen hat, sagt: "Ich weiß, dass ich die Besten der Welt geschlagen habe - und wieder schlagen kann."

© SZ vom 23.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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