Jens Lehmann im Interview:"Ich könnte morgen eine Mannschaft trainieren"

Torwart Jens Lehmann über Fußball in England und Deutschland, deutsche Trainerausbildung und seine Zukunft beim VfB Stuttgart.

Christof Kneer

SZ: Herr Lehmann, nach fünf Jahren in England haben Sie jetzt wieder Ihre ersten sechs Monate in Deutschland verbracht. Fremdeln Sie noch ein bisschen?

Jens Lehmann im Interview: Jens Lehmann schwärmt immer noch für den Fußball von Arsenal London.

Jens Lehmann schwärmt immer noch für den Fußball von Arsenal London.

(Foto: Foto: dpa)

Lehmann: Nein, ich wusste schon noch, wie Deutschland funktioniert. Manche Dinge hat man natürlich vergessen, aber es hat nur ein paar Tage gedauert, bis ich wieder wusste: Stimmt, so geht's zu in der guten alten Bundesliga.

SZ: Zum Beispiel?

Lehmann: Gleich in meiner ersten Stuttgarter Woche war eine zweistündige Autogrammstunde angesetzt. So was gibt's in England gar nicht.

SZ: Aber im Grunde hatten Sie nicht das Gefühl, Sie hätten ein neues Land betreten?

Lehmann: Nein, das nicht. Dieses Gefühl hatte ich 2006, bei der WM. Da war ich schon überrascht, ich dachte: Das soll Deutschland sein? Mein Gott, das ist aber schön hier. Da wollte ich fast nicht mehr nach England zurück ...

SZ: Wie ist das heute? Fehlt Ihnen England?

Lehmann: Schon, ja. Vor allem meine Frau und meine Kinder sagen manchmal: Wir vermissen London.

SZ: Gucken Sie noch englischen Fußball?

Lehmann: Ich muss gestehen: Wenn ich ein schönes Fußballspiel sehen will, dann gucke ich mir immer noch Arsenal an. Das Schöne ist ja, dass Arsenal fast immer ein ästhetischer Genuss ist, egal ob sie gewinnen oder verlieren.

SZ: Als Sie bei der EM Ihren Wechsel vom FC Arsenal nach Stuttgart bekannt gaben, haben Sie noch einmal sehr vom Niveau und vom Tempo des englischen Fußball geschwärmt. Mal ehrlich: Wie groß ist der Unterschied zur Bundesliga?

Lehmann: Im unteren Tabellenbereich ist der englische Fußball schon auch gewöhnungsbedürftig. Es bessert sich jetzt, seit nicht mehr alle Bälle lang geschlagen werden, aber man sollte nicht so tun, als sei die Premier League generell auf höchstem Niveau. Aber was die Topklubs in England betrifft, da gibt es schon einen ziemlichen Unterschied zu Deutschland. Man kann natürlich sagen: Das ist ja auch kein Wunder, in England ist einfach mehr Geld im Spiel.

SZ: Das stimmt ja auch.

Lehmann: Natürlich stimmt das, das kann man schon daran erkennen, dass auch Klubs, die in der Tabelle unten stehen, meist zwei, drei international bekannte Spieler im Team haben. Aber ich hatte das Glück, fünf Jahre bei einem Verein zu sein, der selbst unter den Spitzenklubs eine Sonderstellung genießt. Trainer Arsene Wenger kauft sich ja bewusst keine Mannschaft zusammen, er entwickelt sie. Bei Arsenal gibt's einfach ein unglaubliches Know-how - beim Cheftrainer, beim Chefscout, im ganzen Stab. Fünf Jahre verfolgen zu können, wie so was gemacht wird, das war für mich ein Geschenk des Himmels.

SZ: Haben Sie Bayern gegen Hoffenheim gesehen?

Lehmann: Hab ich, ja.

SZ: Und?

Lehmann: War ein gutes Spiel.

SZ: In Deutschland wurde diese Begegnung sehr hymnisch besprochen. Unter anderem war zu lesen, das Spiel habe ein englisches Tempo gehabt. Sie schmunzeln darüber?

Lehmann: Nein, gar nicht, ich sagte ja: Das war ein gutes Spiel. Vor allem die erste Hälfte fand ich beeindruckend, sehr schnell und sehr intensiv, aber es war mir klar, dass es in der zweiten Hälfte ein anderes Spiel werden würde.

SZ: Inwiefern?

Lehmann: Hoffenheim war vielleicht etwas naiv. Wenn man so ein Tempo geht wie die in der ersten Halbzeit, dann muss man Tore schießen. Später haben sie dann zwar eines gemacht, aber gegen diesen international erfahrenen FC Bayern war das am Ende zu wenig.

"Ich könnte morgen eine Mannschaft trainieren"

SZ: Aus Hoffenheim ist immer zu hören, dass man sich am FC Arsenal orientiere. Ist das vermessen?

Lehmann: Nein, warum? Da haben sich die Hoffenheimer schon das richtige Vorbild ausgesucht. Ich habe mir in England häufig überlegt: Welcher Spieler der Mannschaft A würde in der Mannschaft B auch mitspielen können? Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es selbst bei den englischen Spitzenklubs nicht viele Profis gibt, die bei Arsenal spielen könnten. Arsenal-Spieler müssen technisch herausragend sein, das ist die Politik von Arsène Wenger. Wenn neue Spieler zum FC Arsenal kamen, selbst Supertechniker wie Hleb oder Rosicky, dann haben sie mindestens ein halbes Jahr gebraucht, um im Training überhaupt mithalten zu können. Der Alex Hleb hat nach einem halben Jahr zu mir gesagt: Jens, ich schaff das nicht, ich will hier wieder weg.

SZ: Was haben Sie geantwortet?

Lehmann: Halt durch, Alex, woanders hingehen kannst du später immer noch. Und man sieht ja: Wer es schafft, ist hinterher ein anderer, ein besserer Spieler.

SZ: Sehen Sie etwas Arsenalhaftes bei Hoffenheim?

Lehmann: Ich erkenne durchaus das eine oder andere wieder. Zum Beispiel haben sie in Hoffenheim auch eine niedrige Altersstruktur. Bei Arsenal ist es ja so, dass ein Spieler, der es mit 21 oder 22 noch nicht in die Nähe der ersten Elf gebracht hat, sofort verkauft wird. Es heißt dann: Der schafft das nicht mehr. Mit jungen Spielern kann man dann eben auch so schnell spielen wie die Hoffenheimer. Natürlich müssen sie noch vieles verbessern, wie das Spiel gegen Bayern gezeigt hat, aber der grundsätzliche Weg ist nach meinen Erfahrungen völlig richtig.

SZ: Und das entsprechende Geld ist auch vorhanden.

Lehmann: Ich denke, man tut Hoffenheim unrecht, wenn man sie nur auf das Geld reduziert. Die Spieler waren weitestgehend nicht teuer. Was ich gerade bei Arsenal gesagt habe, das scheint auch bei Hoffenheim der Fall zu sein: Es ist offenbar ein gewisses Know-How vorhanden.

SZ: Hoffenheim war die positive Überraschung der Vorrunde. Wie haben Sie als internationaler Experte die Bundesliga-Vorrunde insgesamt erlebt?

Lehmann: Ich bin wahrscheinlich deshalb ein eher kritischer Experte, weil ich das Glück hatte, ausgerechnet bei Arsenal spielen zu dürfen, wo Arsène Wenger schon im Training Wert darauf legt, dass wir immer die offensive Lösung finden. Umso mehr fällt mir jetzt eben auf, dass in der Bundesliga nach wie vor viel Wert darauf gelegt wird, dass man richtig verteidigt, beziehungsweise: gegen den Ball spielt, wie das hier so schön heißt. Aber es gibt wenig Lösungen nach vorne.

SZ: Dabei ist die Bundesliga so stolz auf ihre schöne Torflut.

Lehmann: Es wurde offensiv gespielt, das ist erfreulich. Aber ich war schon überrascht, wie viele Bundesliga-Mannschaften kein verlässliches Spiel haben.

SZ: Was meinen Sie damit?

Lehmann: Als Torwart hat man einen speziellen Blick auf die Dinge, und mir ist aufgefallen, dass ich hier ein Spiel ganz anders verfolge als in England. In England wusste ich: So, jetzt greifen wir an, jetzt habe ich mal ein paar Momente Ruhe. Das Schema war klarer: Wenn der Fabregas an dieser oder jener Stelle den Ball bekommt, dann spielt er ihn da oder dort hin. Die Spielzüge waren automatisiert. In der Bundesliga dagegen passieren manchmal Dinge, mit denen man nicht rechnet. Ich stehe hinten drin und denke: So, jetzt spielt er einen Pass da rüber - aber der spielt den Pass dann gar nicht da rüber. Auf einmal verliert der Spieler den Ball, und zack, geht das Spiel in die andere Richtung. Das Passspiel in Deutschland ist weniger verlässlich, das Spiel generell weniger automatisiert.

SZ: Woran könnte das liegen?

Lehmann: Matthias Sammer hat früher mal gesagt: Die Deutschen haben keine Ahnung von Taktik. Vielleicht ist da immer noch was dran.

"Ich könnte morgen eine Mannschaft trainieren"

SZ: Aber in der Bundesliga sind inzwischen doch einige jüngere, als fortschrittlich geltende Trainer am Werk, die viel Wert auf Taktik legen.

Lehmann: Ich kann nur sagen, was ich sehe: Und ich kann in den meisten Spielanlagen immer noch zu wenig erkennen. Ich sehe zu wenig Automatismen.

SZ: Kann es sein, dass Sie mal Trainer werden wollen?

Lehmann: Das weiß ich noch nicht, aber eines ist klar: Wer mal unter Wenger trainiert hat, der weiß, wie faszinierend es sein kann, als Trainer Einfluss auszuüben. In England sieht man bei drei der vier Topklubs eine Kontinuität auf dem Trainerposten: Wenger, Ferguson und Benitez bürgen für höchste Qualität.

SZ: Was mitten hinein in die aktuelle Stuttgarter Debatte führt: VfB-Teamchef Markus Babbel, der wie Sie einige Jahre in England verbrachte, hat nicht die nötige Trainerlizenz, um auf Dauer eine Erstliga-Mannschaft trainieren zu dürfen. Sie haben in dieser Woche kritisch angemerkt, dass man in England im Training so vieles sieht und lernt, dass man keinen elfmonatigen Kursus mehr braucht.

Lehmann: Markus war ja wie ich bei einem Spitzenklub, er war in Liverpool bei Trainer Gerard Houllier, einem absoluten Fachmann. Da bekommt man unheimlich viel mit. Markus genießt sicher eine andere Stellung durch diese Lehrzeit auf höchstem Niveau und benötigt es fachlich nicht. Bei jeder Ansprache, die zum Beispiel Wenger gehalten hat, lernt man was Neues über Fußball. Ich habe schon in meinem ersten Arsenal-Jahr angefangen, Aufzeichnungen zu machen und das bis zum Schluss fortgeführt. Ich habe mir den Trainingsaufbau notiert, die konkreten Übungen, ich habe das alles zu Hause in Ordnern abgeheftet. Ich habe keinen Trainerschein, aber ich denke, dass ich morgen anfangen könnte, eine Mannschaft zu trainieren.

SZ: DFB-Sportdirektor Matthias Sammer hat die Sonderregelungen für ehemalige Profis extra abgeschafft - wie es aussieht, werden auch Sie um den elfmonatigen Lehrgang nicht herumkommen.

Lehmann: Wenn das dann immer noch so gehandhabt wird, muss ich mir noch mal überlegen, ob ich eine Lizenz erwerben soll. Aber damit das nicht falsch verstanden wird: Ich finde es vom Grundsatz her völlig richtig, dass der Trainerberuf aufgewertet und die Ausbildung verbessert wird. Ich habe sechs Jahre studiert, ich bin ein Freund von Didaktik und akademischem Arbeiten, ich will bestimmt nichts geschenkt haben. Ich mache gerne jeden Schein und jede Prüfung. Aber warum muss das zwingend in Köln sein, wenn ich in München wohne? Ich war mein ganzes Leben unterwegs, und ich kann zur Prüfung auch gerne nach Köln kommen. Aber ich weiß, dass ich dafür nicht elf Monate in Köln sein muss.

SZ: Sie sind gerade 39 geworden, Ihr Einjahres-Vertrag beim VfB läuft im Sommer aus. Haben Sie sich schon überlegt, ob Sie auch mit 40 noch im Bundesliga-Tor stehen wollen?

Lehmann: Es gibt zwei Szenarien. Szenario eins: Ich höre im Sommer auf. Szenario zwei: Ich mache weiter, und zwar mit Vollgas. Ich weiß, dass ich 39 bin, aber ich spüre diese Zahl nicht. Ich stehe morgens auf und fühle mich topfit. Falls ich weiterspiele, will ich nochmal auf höchstem Niveau spielen. Ich mache das ein bisschen von der sportlichen Ent-wicklung hier in Stuttgart abhängig.

SZ: Sie würden mit 39 nochmal den Verein wechseln?

Lehmann: Mir gefällt es in Stuttgart sehr gut, die Atmosphäre ist angenehm, die Leute sind sehr nett zu mir. Aber man kann nie wissen, was kommt.

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