Jacques Rogge im Gespräch:"Dem Sport hilft nur Big Brother"

Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, über Doping, Korruption und ein paar spezielle deutsche Probleme.

Von Thomas Kistner

SZ: Herr Präsident, wie viele olympische Medaillen mussten Sie in Ihrer erst dreijährigen Amtszeit umverteilen? Rogge: Ich glaube, das kriege ich hin: Die Langläufer Danilova, Lasutina und Mühlegg in Salt Lake City. Dann warten wir auf den Beschluss des Leichtathletik-Weltverbandes zu der US-Siegerstaffel über 4x400 m in Sydney, da gibt es wohl auch einen Tausch. Wir hatten vier, fünf Medaillen in Sydney, in Athen Fazekas, Annus, das kolumbianische Mädchen, die russische Kugelstoßerin - es waren so viele...und wir benötigen immer noch Beerbaum, wegen dieser Dopingsache im deutschen Reiterteam. Gut, es müssen zehn bis 15 Medaillen sein.

Jacques Rogge im Gespräch: IOC-Chef Jacques Rogge: Ein Verfechter der Null-Toleranz-Linie.

IOC-Chef Jacques Rogge: Ein Verfechter der Null-Toleranz-Linie.

(Foto: Foto: Reuters)

SZ: Deutlich mehr als in der 21-jährigen Amtszeit Ihres Vorgängers Samaranch. Wird heute schärfer kontrolliert oder mehr gedopt? Rogge: Definitiv sind die Tests effizienter geworden, auch die wissenschaftliche Methodik ist besser. Und wir testen außerhalb des Wettkampfes, in aller Welt. Zudem machen wir Zielkontrollen, wenn uns jemand verdächtig ist. Wir schicken jemand ins Haus, wie bei Mühlegg. Der war in seinem Quartier am Rennkurs, als unser Team abends um sechs anklopfte.

SZ: Dass mit vertiefter Szenekenntnis gearbeitet wird, galt bisher als üble Vorverdächtigung. Muss man nicht zugeben, dass Doping früher nie konsequent bekämpft wurde? Dick Pound, lange Jahre IOC-Vize und heute Chef der Welt-Antidopingagentur Wada, sagt, mit Dopingthemen sei stets diplomatisch umgegangen worden. Statt Sünder rauszuwerfen, hätte man Skandale intern geregelt, streng harmonisch - war es so? Rogge: Es ist nicht an mir, eine Erklärung zur Vergangenheit abzugeben.

SZ: Sie waren aber auch zu der Zeit schon IOC-Mitglied. Rogge:Richtig ist: Das IOC hat eine neue Politik, für die ich stehe. Aber es gibt auch eine Änderung der Mentalität. Sogar George W. Bush hat erklärt, wir müssen jetzt gegen anabole Steroide kämpfen, und das amerikanische Olympiakomitee hat sich total verändert. Gerade haben wir erlebt, dass eine Athletin wie Michelle Collins acht Jahre gesperrt wurde - früher unmöglich! Es ist dieser Mentalitätswechsel, den ich sehr begrüße, da hat auch die Wada großen Anteil. Wir brauchen die Wada nicht für unsere Politik im IOC, ihre Existenz schreckt aber viele Leute ab. Das ist großartig.

SZ: Sie sind Arzt. Schockiert es Sie da nicht, wenn Sie nun in der Balco-Affäre sehen, welche Mittel US-Stars wie Marion Jones über all die Jahre nahmen: Echte Dopingbomben aus Wachstumshormonen, Insulin sowie längst nachweisbaren Mitteln wie Anabolika - und flogen doch nie auf? Jones wurde 84 mal getestet zwischen 1997 und 2002, stets negativ. Ist dieser Kampf nicht sinnlos geworden? Rogge: Er wird immer schwierig sein, weil Betrug fester Bestandteil der menschlichen Natur ist. Es wäre naiv zu sagen, wir lösen das Problem, das wäre, als würde man die Gesellschaft auffordern, die Kriminalität abzuschaffen. Wir werden immer Gefängnisse und Polizisten brauchen. Stimmt, diese Athleten flogen nie auf. Aber wir können jetzt besser testen als noch vor sechs Monaten, wir können Epo finden. Trotzdem zählt nur eines wirklich: Unangekündigte Trainingstests. Dass wir morgens um sieben, abends um acht irgendwo anklopfen und rufen: Wir wollen eine Probe. Nur das funktioniert. Im Wettkampf sind die Betrüger sauber, vorher nicht. Wie in Salt Lake City, Mühlegg und die Russinnen. Wir schnappten sie außerhalb der Wettkämpfe, beim Rennen fand sich nichts.

SZ: Aber es gibt auch eine neue Qualität des Betrugs. Marion Jones verdankt Ihre saubere Weste auch dem Umstand, dass sie so genannte Pre-Testings vornahm, etwa vor ihren Rennen in Sydney Urinproben nach Kalifornien verschickte, wo sie von einem Privatlabor überprüft wurden. Längst beteiligen sich große Firmen am Betrug und verdienen gut daran. Marion Jones wurde nach Aktenlage von dem US-Chemieriesen Quest gecheckt. Osteuropäische Athleten bedienen sich privater Labors in Warschau oder Rumänien - ein Prinzip, das schon in DDR und UdSSR praktiziert wurde. Steckt dahinter nicht längst eine wissenschaftlich-industrielle Verschwörung? Rogge: Das ist leider richtig. Es gibt diese Labors, wo sich Athleten heimlich testen lassen. Gerade deshalb sage ich ja: Es geht nur mit Überraschungskontrollen. Dann ist es auch unerheblich, ob sich Athleten zur Sicherheit selbst testen. Sie wissen ja nie, wann der Kontrolleur an die Tür klopft.

SZ: Überraschungstests funktionieren nur, wenn der Kontrolleur den Athleten vorfindet. Das ist oft nicht der Fall. Und: Es gab bisher so gut wie nie, wenn Sportler nicht anzutreffen waren, Sperren wegen Nichterscheinens. Die Athleten liefern die tollsten Stories, warum sie verschwinden mussten, die Verbände helfen nach beim Vertuschen, Sie müssen ja stets den Aufenthaltsort ihrer Athleten kennen. Geraten die Verbände so nicht oft in die delikate Lage, eigene Athleten ans Messer liefern zu müssen? Rogge: Ja, aber wir hatten das Problem mit dem Nichterscheinen auch mit den griechischen Sprintern Kenteris und Thanou. Ich bin froh, dass sie suspendiert sind. Wir müssen Athleten, die zum Test nicht erscheinen, viel strikter bestrafen. Sie gehören disqualifiziert, Punkt. Wer nicht sofort greifbar ist, muss es spätestens nach ein, zwei Stunden sein. Aber keine Ausnahme mehr für den, der drei-, vier-, fünfmal nicht erscheint.

SZ: Wie kriegen Sie das hin? Bisher wurde kaum ein Athlet wegen Abwesenheit bestraft - und viele redeten sich mit abenteuerlichen Geschichten heraus. Rogge: Wir müssen über die Wada und einen verschärften Antidoping-Code sicherstellen, dass diese Regeln eindeutig und unbedingt einzuhalten sind. Die Verbände müssen haftbar gemacht werden für die Aussage, wo sich ihre Athleten gerade aufhalten. Das ist der einzige Weg.

SZ: Also Big Brother im Sport, die totale Überwachung des Athleten? Rogge: Ja. Betrüger zerstören die Glaubwürdigkeit. Und wir haben Big Brother überall in der Drogenbekämpfung. Also habe ich kein Problem damit, es geht ja um Betrugsbestrafung. Wenn da jemand sein Recht auf Privatsphäre einklagen will - ich bitte Sie.

SZ: Von Kenteris/Thanou war die Rede. Das saubere Pärchen hatte nicht mit dem Test gerechnet, als es am Tag vor Spiele-Eröffnung im Olympiadorf aufkreuzte. In Athen hieß es, sie seien auch von der Veranstalterorganisation Athoc gebeten worden, sich im Dorf kurz zu registrieren - und es sei ihnen garantiert worden, in den paar Minuten nicht getestet zu werden. Wissen Sie etwas davon? Rogge: Das habe ich nie gehört. Die Prozedur war so abgelaufen: Als wir in Athen ankamen, gab ich unserem IOC-Arzt Schamasch Anweisung, eine Reihe Athleten im Training zu testen, ungefähr 20, darunter Kenteris und Thanou. Alles lief problemlos, nur die zwei erschienen nicht. Ich sagte Schamasch, er solle die Jagd fortsetzen. Zwei Tage vor Eröffnung fragte ich beim griechischen NOK nach. Das erfuhr vom Leichtathletikverband, die zwei seien in München bei einem Arzt. Wir forderten die Hoteladresse an, aber da war niemand. Tags darauf hieß es, sie seien im Olympiadorf. Ich ließ Schamasch ein Team hinschicken. Aber das fand sie nicht mehr, sie waren wieder fort - und nun ging diese Geschichte mit dem Unfall und dem Hospital los. Aber das Athoc hatte damit nichts zu tun, unsere Informationen kamen vom NOK.

"Dem Sport hilft nur Big Brother"

SZ: Was halten Sie von einem Antidoping-Gesetz? Braucht man so eine staatliche Hilfe, wie sie es in Frankreich, Italien oder Skandinavien schon gibt, die aber beispielsweise in Deutschland noch immer als überflüssig betrachtet wird? Rogge: So ein Gesetz ist sehr wichtig. Ich komme aus dem Land, das 1965 das erste Antidoping-Gesetz einführte, Radfahren ist ja in Belgien sehr populär. Diese Regelung ist bis heute Grundlage vieler Gesetze anderswo und beruht darauf, dass der Athlet nicht strafrechtlich, sondern unter disziplinarischen Aspekten bestraft wird. Athleten sind keine Gefahr für die Gesellschaft, aber die Dealer müssen ins Gefängnis, das ist die Philosophie. Es gibt jedoch einige Probleme: In Italien kann der Athlet ins Gefängnis wandern. Das ist nicht die beste Lösung, also baten wir die Regierung, das für die Spiele in Turin 2006 zu ändern. Nur der Staat kann Leute verhören, Häuser und Gepäck durchsuchen, Zollkontrollen machen, nur der Staat kann Telefone abhören - wir können das alles nicht.

SZ: Empfehlen Sie das auch dem deutschen Sport? Da gibt es starken Widerstand, von den Sportführern bis hin zu Bundesinnenminister Otto Schily. Rogge: Generell: Jedes Land sollte ein Antidopinggesetz haben. Wir brauchen die Hilfe der Regierungen, die so viele weitere Dinge tun können, Qualitätskontrollen für die Sportmedizin, Prävention in der Schule, Forschungshilfen. Auch der Tour-Skandal 1998 flog durch eine Zollkontrolle auf. Sie beschlagnahmten Drogen und enttarnten ein riesiges Netzwerk. Das schaffen nur Regierungen.

SZ: Sie haben Kredit mit Ihrer Null-Toleranz-Linie zurückgewonnen. Innerhalb des IOC selbst aber wirken Sie nicht so stabil wie Ihr Vorgänger - dessen personelle Altlasten, mutmaßlich korrupte Leute wie den Südkoreaner Un Yong Kim oder den Bulgaren Ivan Slavkov, Sie jetzt auch noch bewältigen müssen. Sind Sie im IOC, was Sie einst als Sportler waren - ein einsamer Einhandsegler? Rogge: Denke ich nicht. Seit ich gewählt wurde, hatten wir den Fall Bob Hasan, er wurde ausgeschlossen. Wir wollen nun Slavkov ausschließen, das wird bei der Session 2005 in Singapur entschieden. Dann haben wir Un Yong Kim, da warten wir auf das Gerichtsurteil in Seoul. Das IOC hat getan, was nötig war. Ich bin nicht glücklich darüber!

SZ: Sie fanden anfangs offenen Widerstand im IOC. Wie reagieren Mitglieder, die bisher anderes gewohnt waren, auf den neuen, konsequenten Führungsstil? Rogge: Ich glaube nicht, dass es Probleme gibt. Ich würde mich ja auch lieber um den Sport kümmern als um Fragen von Anstand und Ethik - das ist nicht sehr angenehm. Aber ich muss es tun. Und ich habe absolut kein Problem, meine Kollegen davon zu überzeugen.

SZ: Und in den Programmfragen? Rogge: Da gab es Widerstände, die Leute waren noch nicht bereit für Änderungen. Aber nun haben wir eine Regel, die besagt, wir werden nie mehr als 28 Sportarten und 10500 Athleten haben. Wir haben die Inflation gestoppt. Als nächstes ist zu prüfen, ob wir neue Sportarten einführen und andere aus dem Programm tilgen. Nach jeden Spielen gibt es jetzt eine Bestandsaufnahme. Das ist der Beginn eines Langzeitprozesses, der zu echten Änderungen führen wird. Ich denke, das ist das Maximum, das ich bis heute erreichen konnte. Viele Verbände reagieren bereits, weil sie wissen, sie werden beobachtet. In der Leichtathletik stand ein Fragezeichen hinterm Gehen - sie änderten die Regeln. Die Reiter haben ihr Gelände verkleinert, es gibt nur noch zwölf statt 30 Kameras, die Hindernisse wurden vermindert, es gibt weniger Unfälle mit Toten. Und Base- und Softballer spielen im selben Stadion.

SZ: Wie gehen Sie mit Lobbyisten um? Jeder im Sport versucht doch, den IOC-Chef für sich zu beeinflussen. Rogge: Wenn sie mich mit Argumenten überzeugen, okay. Wenn nicht, sage ich ihnen meine Meinung. Aber definitiv bin ich immun gegen alle Ideen, die nicht im vitalen Interesse des IOC liegen.

SZ: Die totale Unabhängigkeit des IOC ist so ein vitales Interesse, speziell in Zeiten weltweiten Terrors, wenn die Spiele ständig vom Ausfall bedroht sind. Wie unabhängig sind Sie heute? Rogge: Zum Antritt 2001 fragte ich nach, wie lange das IOC ohne Spiele überleben könne. Die Antwort: 18 Monate, dann können wir einpacken. Also rechneten wir aus, dass, wenn die Spiele in Salt Lake City oder Athen ausfielen, wir 200 Millionen Dollar zum Überleben brauchten. Damals hatten wir 98. So war mein erster Schritt, der Exekutive zu sagen, wir müssen so schnell wie möglich die Grenze von 200 Millionen erreichen.

SZ: Gesagt - auch schon getan? Rogge: Wir haben das nach Athen erreicht. Der Betrag wird bei Jahresende zwischen 200 und 220 Millionen liegen. Genug, um die nächsten vier Jahre ohne Spiele zu überleben. Aber es reicht ja nicht, die Gehälter zu bezahlen, wir brauchen auch Geld zum Arbeiten, für Verbände und NOKs. Also nahmen wir eine Versicherung für Turin und Peking auf. Falls diese Spiele ausfallen, könnten wir neben der Funktion des IOC auch die Arbeit des internationalen Sports erhalten.

SZ: Zu Turin und Peking. Die Organisatoren in Turin haben Ihre Ermahnung, die Winterspiele 2006 endlich populär in ganz Italien zu machen, bisher nur mit Skandalmeldungen umgesetzt - also keineswegs so wie erwünscht. Rogge: Ich bat zweimal bei Berlusconi um Regierungshilfen für das Organisationskomitee Toroc. Der Erfolg dieser Spiele muss in den nächsten zwei Monaten gesichert werden, nicht innerhalb des Jahres. Es braucht Geld und Arbeitskräfte, mehr Unterbringungsmöglichkeiten in den Bergen. Zudem braucht Turin eine bessere Kommunikation. Es gibt zwar noch nichts, was ein echtes Drama wäre, aber: Jetzt heißt es Gas geben.

SZ: In Peking ist Geld kein Problem, dafür gibt es andere Fragen. Etwa zum Projekt 119, das sich auf die Gesamtzahl der in den olympischen Kernsportarten Leichtathletik, Schwimmen und Turnen erreichbaren Medaillen bezieht... Rogge: ... Projekt 119 ...

SZ:... Sie lachen - dann wissen Sie ja, worum es sich dabei handelt? Rogge: China gewann bisher nur in weniger populären Sportarten Medaillen. Jetzt in Athen holten sie die erstmals in Sportarten, wo wir sie nicht vorne erwartet haben. Wir hätten jeden, der uns vor den Athener Spielen gesagt hätte, dass Chinas Frauen im Tennisdoppel gewinnen, für verrückt erklärt. Und gefragt: Gibt es überhaupt Chinesinnen, die Tennis spielen? Oder, mein Segelsport: Wir wussten, es könnte Athleten geben, die in Peking so weit sind - aber nein, sie waren schon in Athen so weit. Das waren die Erweckungsspiele für Asien. Sie sehen ja auch die wachsenden Erfolge der anderen: Japan, Thailand, Korea.

SZ: Wir sehen auch die Methoden, mit denen der Erfolg produziert wird. China hat wahre Zuchtstätten für Olympiasieger von morgen, die systematisch nicht nach Neigung und Interesse, sondern nach Körpereignung gedrillt werden. Wie steht es dort mit Doping? Wo sind heute die Grenzen für einen Staat, der sich so exzessiv des Sports bedient? Rogge: Zum Doping: Es gab bis zur Schwimm-WM in Rom (1994, d. Red.) viele Fragezeichen hinter China. Seither hat sich einiges geändert, sie haben strikte Dopingtests und veröffentlichen lange Listen mit Leuten, die erwischt wurden. Das Pekinger Labor ist qualitativ sehr gut. Ich glaube wirklich, dass die Chinesen da ohne Kompromisse arbeiten. Und wenn ein Staat systematisch den Sport benutzt wie in der DDR, ist das unakzeptabel, unethisch. Aber ein System, in dem der Staat den Sport unterstützt, Infrastruktur und Trainer anbietet und Athleten einen sozialen Status gibt, ist ein gutes System. In vielen Ländern mit erfolgreichen Sportlern spielt der Staat eine große Rolle, auch bei Ihnen in Deutschland, über Zoll und Bundeswehr. Solange es unter ethischen Prinzipien geschieht, sehe ich kein Problem.

SZ: Wer überwacht diese Prinzipien? Rogge: Bezüglich des Dopings die Wada. Ich glaube auch nicht, dass es in China organisiertes Staatsdoping gibt. Bezüglich der ethischen Fragen...

SZ: ...bezüglich der sportlichen Zuchtprogramme ... Rogge: ... ich halte staatliche Entwicklungsprogramme für unbedenklich, so lange Athleten freie Wahl haben. Und wenn sie zehn, elf Jahre alt sind, liegt die Verantwortung bei den Familien. Was meist der Fall ist in Ländern, wo der Staat eine besonders starke Rolle spielt, ist, dass er den Familien einen sozialen Schutz offeriert. Wenn er talentierte junge Leute in gut organisierte Trainingszentren bringt und den Eltern eine Beschäftigung dort in der Umgebung anbietet - warum nicht? Solange die Menschenwürde beachtet wird, sehe ich kein Problem.

SZ: Nach allem, was man zum Themenbereich Menschenwürde weiß und über Chinas Sport im Speziellen - ist die Annahme nicht naiv, dass es dort freie Entfaltungsmöglichkeiten gibt? Rogge: Wir schicken eine Menge Leute dort hin, um ihr System zu besichtigen.

SZ: Sie kontrollieren es also? Rogge: Nicht im Sinne von Inspektionen, aber wir haben viele Kontakte. Und wir hören von vielen Trainern aus vielen Ländern, die dort gearbeitet haben, dass es kein totalitäres System sei. Es basiert auf Wettbewerb und Auslese.

SZ: In Deutschland gelten Sie als olympischer Spielverderber. Otto Schily sagte nach Leipzigs Bewerbungs-K.o. sogar, es fiele ein Schatten auf die deutsche Niederlage, für die Sie verantwortlich seien. Sie hätten in Leipzig Wochen zuvor positive Signale ausgesendet. Zudem stünde nur Leipzig für die Abkehr vom Gigantismus, den das IOC bekämpfen wolle. Wie fühlen Sie sich als Sündenbock? Rogge: Das ist sehr interessant. Ich habe in Leipzig klar gesagt: Klein zu sein ist kein Schlüssel zum Erfolg. Wir wollen Größe, Komplexität und Kosten der Spiele reduzieren, aber das können Sie ja leicht auch in New York oder Moskau tun. Hier wurden eindeutig Dinge vermischt, ich sagte immer klar: Kompakte Spiele - das hat nichts mit der Stadtgröße zu tun. In Leipzig hatten wir Zweifel. Zweifel an der Unterbringung, weil alte Industriegebäude in Privatherbergen verwandelt werden sollten. Das ganze Konzept basierte auf privaten Investitionen, unsere Experten glaubten nicht, dass die gewaltige Aufgabe so zu stemmen sei. Dazu war uns das Finanzkonzept für Stadionbauten, Infrastruktur, Transport zu dubios. Das ist aber kein Urteil über Deutschland, das Land ist fähig, Spiele auszurichten. Nur hat uns, was in Leipzig präsentiert wurde, nicht überzeugt.

SZ: Haben deutsche Politiker und Bewerber Ihre klaren Worte ignoriert - wie kam es zu so scharfen Schuldzuweisungen, dem Gejammer von Lug und Trug? Rogge: Es ist eine emotionale Sache. Das IOC wird aber immer gefragt: Warum nicht Deutschland? Wir erklären es, aber die Frage muss auch an Deutschland gehen: Warum Leipzig? Trotzdem, Otto Schilys Reaktion verstehe ich. Er ist halt Politiker, ich bin Technokrat.

SZ: Schily arbeitet schon an der nächsten Großbaustelle, er treibt den Sport an, die Dachgremien NOK und Deutscher Sportbund DSB zu fusionieren. Ihre deutschen IOC-Mitglieder Walther Tröger und Thomas Bach haben dazu ganz unterschiedliche Ansichten. Tröger missfällt die Fusion, Bach schätzt das Projekt so sehr, dass er ihm wohl selbst gerne vorstehen würde. Was halten Sie davon? Rogge: Ich war selbst für die Fusion in Belgien verantwortlich. Das IOC redet keinem Land hinein, es achtet aber genau darauf, dass unser Kerngeschäft geschützt bleibt. Es muss gesichert sein, dass über alle olympischen Belange nur betroffene Verbände abstimmen und die Symbole geschützt sind. In den meisten Ländern war das Problem, ein System zu finden, dass auch den nicht-olympischen Verbänden passte. Die wollen sich ja nicht als Minderheit abspeisen lassen.

SZ: In Deutschland ist es umgekehrt. Der DSB drängte auf Fusion, das NOK blieb reserviert. Hat aus Ihrer Sicht der NOK-Präsident der starke Mann zu sein, weil er die olympischen Verbände führt? Rogge: Das ist ja automatisch so, weil die olympischen Verbände bei einer Verschmelzung riesige Macht und die Stimmenmehrheit erhalten. Sie bestimmen, wer die Organisation führt.

SZ: Und die neue Führungsperson an der Spitze des Dachgremiums im deutschen Sport, der Weltbedeutung hat - ist sie das nächste deutsche IOC-Mitglied? Rogge: Wir schauen auf die persönliche Eignung. Aber definitiv hat die Person, die dann den vereinigten deutschen Sport führt, sehr gute Aussichten.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: