Italiens Trainer Cesare Prandelli:Lehrer, Pilger, perfekter Repräsentant

Plötzlich spielt die italienische Mannschaft so, dass man die über Jahrzehnte gepflegten Klischees in eine Kiste packen kann. Trainer Cesare Prandelli erscheint als die Idealbesetzung im Jahr eins nach Berlusconi: Er beweist, dass mündige Bürger besser sind - auch für die Nationalmannschaft.

Birgit Schönau

Kulturrevolution. Anders kann man es nicht nennen, was Cesare Prandelli mit der Squadra Azzurra anstellt. Plötzlich spielt da eine italienische Mannschaft so, dass man die liebevoll über Jahrzehnte gepflegten Klischees in die Kiste packen kann. Es gibt keine Gehässigkeiten mehr und keine Schwalbenflüge, es wird nicht mehr gemauert und nicht mehr abgestaubt.

Unglaublich, diese Italiener: Wenn die gegen alle Prognosen jetzt auch noch das Halbfinale gewinnen würden, könnten die Deutschen sich nicht mal mehr als moralische Sieger fühlen. Umgekehrt würde ein deutscher Sieg über Italien kaum nach Revanche schmecken, denn der Gegner von heute hat nichts mehr mit dem Fußball-Erbfeind von früher gemein. Cesare Prandelli, 54, und Joachim Löw, 52, sind Brüder im Geiste. Sie haben es geschafft, aus dem Ressentiment-geladenen Klassiker Deutschland gegen Italien ein normales, höchstens technisch aufregendes Spiel zu machen. Die Chancen stehen gut, dass diesmal sogar der Bessere gewinnt.

"Lieber ein Tor nach einem deutschen Konter kassieren als 90 Minuten lang in der eigenen Hälfte zu leiden", lautet Prandellis Marschbefehl für diesen Donnerstag. Er verzichtet darauf, das Offensivspiel ideologisch zu verbrämen; es sei eine reine Notwendigkeit. "Wer das nicht kann, wird die Turniere demnächst zu Hause vor dem Fernseher erleben."

So wie die Azzurri die entscheidende Phase der WM 2010. Siegesgewiss waren sie mit ihrem damaligen Trainer Marcello Lippi als Titelverteidiger nach Südafrika gereist, gewannen aber in der Vorrunde kein einziges Spiel und fuhren gleich wieder nach Hause. Lippi hatte einfach die Suppe von 2006 wieder aufgewärmt, die war aber in der Zwischenzeit schon über dem Verfallsdatum. Als Prandelli, damals Trainer des AC Florenz, die Squadra Azzurra übernahm, sah das sehr nach Himmelfahrtskommando aus. Er machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. Niemand dürfe zu viel erwarten. Der Neubeginn würde Jahre dauern. Zwei Jahre nach der Stunde Null steht er mit seiner Mannschaft im EM-Halbfinale.

Dahinter steht eine Mischung aus enormer Selbstdisziplin und selbstbewusster Gelassenheit. Prandelli ist kein rabiater Feldwebel wie Lippi, aber auch kein liebenswert-verschrobener Papi, dem die Spieler wie einst Giovanni Trapattoni oder Cesare Maldini auf der Nase herumtanzen. Seine Autorität gründet nicht auf einer legendären Spielerkarriere wie bei Dino Zoff. Und doch verkörpert der Commissario Tecnico noch sehr viel stärker als diese Vorgänger den Lehrer der Nation. Nicht nur, weil er unter Einsatz aller verfügbaren Medien jeden Gegner minutiös studiert - Lippi machte alles aus seinem Großvaterbauch heraus.

Von einem italienischen Nationaltrainer wird traditionell erwartet, dass er die Mannschaft auch außerhalb des Platzes führt. Er soll Italien repräsentieren, nicht mehr und nicht weniger. Die Nationalmannschaft steht in dem chronisch zerrissenen Land unter besonderer Beobachtung. Sie bewegt Regierung und Opposition, Kirchenführer und Bürgerrechtler. Deshalb war der nichtssagende Roberto Donadoni eine krasse Fehlbesetzung für den Posten.

Cesare Prandelli hingegen ist wohl so etwas wie die Idealbesetzung im Jahre eins nach Berlusconi. Der Medienzar nutzte den Fußball, um Wähler zu gewinnen, die dann behandelt wurden wie Tifosi. Prandelli beweist jetzt, dass mündige Bürger besser sind, auch für die Nationalmannschaft.

Siege helfen natürlich auch Prandelli

Natürlich hilft es, dass die Azzurri neuerdings wieder gewinnen. Aber wichtiger ist, dass sie im In- und Ausland eine gute Figur machen. Und Prandelli ist ein Nationaltrainer, der nicht nur für eine bessere Mannschaft arbeitet, sondern ganz demonstrativ auch für ein besseres Land. Wer sich in seinem Verein schlecht benimmt, den lässt er nicht mitspielen. Daniele De Rossi bekam von ihm eine Auszeit verordnet, ebenso Mario Balotelli. Aber auch Aussetzer außerhalb des Platzes werden geahndet. So musste sich Antonio Cassano nach seiner Attacke gegen Homosexuelle schriftlich entschuldigen. Prandelli selbst hatte in einem Vorwort zu dem Buch eines Homosexuellen-Aktivisten geschrieben, er wünsche sich, dass auch im Sport kein Platz mehr sei für sexuelle Diskriminierung.

Wie andere Nationalmannschaften auch haben die Azzurri Auschwitz besucht. Prandelli hatte zu diesem Besuch italienische Überlebende eingeladen, Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Rom, die 1943 von den deutschen Besatzern deportiert worden waren. Beim Gespräch der Spieler mit den hoch betagten Auschwitz-Überlebenden kam es zu bewegenden Szenen. Erschüttert entschuldigte sich Kapitän Gianluigi Buffon dafür, dass er sich in der Vergangenheit mit rechtsextremen Symbolen gezeigt hatte. Aus Unwissenheit, beteuerte Buffon.

Im November 2011 ließ Prandelli die Nationalelf in Kalabrien trainieren - auf einem Platz, der einst einem Boss der Mafia-Organisation 'Ndrangheta gehört hatte. Der Staat hatte das Gelände konfisziert, jetzt wird Fußball darauf gespielt. Die Aktion der Azzurri stand unter dem Motto: "Ein Tritt gegen die Mafia." Das saß, in einem Land, in dem Antimafia-Journalisten in den Untergrund abtauchen müssen und in dem bis dato Politiker noch nicht einmal unter Mafia-Verdacht zurücktraten.

Und doch schien das Engagement des Trainers Makulatur zu werden, als die Azzurri kurz vor dem Turnier von einem Wettskandal überrollt wurden. Die Polizei erschien im Trainingslager, durchsuchte das Zimmer des Spielers Domenico Criscito. Prandelli entschied umgehend, Criscito aus dem Kader zu streichen, den ebenfalls verdächtigten Leonardo Bonucci aber nahm er mit.

Als dann noch Gigi Buffons Millionenzahlungen an ein Wettbüro in Parma ruchbar wurden, holte der Coach die große Keule heraus: "Wenn es hilft, fahren wir nicht zum Turnier. Es gibt Wichtigeres als Fußball." Da wirkte Prandelli zum ersten Mal überfordert. Aber seine Provokation zeigte Wirkung. Die Squadra fuhr zur EM, jetzt demonstrativ unterstützt auch von einer Regierung, deren Chef Mario Monti nur Tage zuvor angeregt hatte, den Fußballbetrieb mal zwei, drei Jahre ruhen zu lassen. Zum Zwecke der Selbstreinigung.

Das Gepäck, mit dem die Italiener ins Halbfinale treten, wiegt also schwer. Und doch predigt ihr Trainer: "Fußball soll Spaß machen. Die ernsthaften Dinge sind ganz andere." Prandelli weiß, wovon er spricht. Als 2004 seine Frau an Krebs erkrankte, kündigte er den soeben unterzeichneten Vertrag mit dem AS Rom und pflegte sie bis zu ihrem Tod.

Wie soll man gegen so einen gewinnen? Nun, zum Glück ist der Lombarde kein Heiliger. Als Mittelfeldspieler bei Juventus Turin war Prandelli ein ziemlicher Treter, ein Star wurde er nie. Als Trainer brachte er den AC Florenz zwar in die Champions League, aber schöner Fußball sah auch damals schon anders aus. Er schmiert sich manchmal zu viel Gel in die Haare und trägt weder den flotten Schnitt noch die schönen Hemden von Jogi Löw.

Nach jedem Sieg pilgert er Kilometer weit in polnische Wallfahrtskirchen - da steckt womöglich mehr dahinter, wer weiß, was der Mann alles zu beichten hat. Er neigt zur Selbstgefälligkeit wie die meisten Gutmenschen und er hat seinen Sohn als Fitnesstrainer bei den Azzurri untergebracht, als sei die Nationalelf ein Familienunternehmen. Aber alles in allem: ein Supertyp.

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