Italien vor der Fußball-WM:Der Kitt, der das Land zusammenhält

Italy training session

Der Boss läuft vorweg: Andrea Pirlo (Mitte).

(Foto: dpa)

Korruption, Berlusconi, Vetternwirtschaft: Italien wendet sich gerade ab von seinem Fußball. Ausnahme bleibt die Squadra Azzurra - die Leidenschaft fast aller Italiener. Das Nationalteam um Andrea Pirlo steht vor einer großen Aufgabe.

Von Birgit Schönau, Rom

Ausgerechnet Sandalen. Es nervt Giovanna Melandri heute noch, dass von ihrem ersten großen Auftritt bei der Squadra Azzurra vor allem dies in Erinnerung geblieben ist: Die hellen Sandalen zum cremefarbenen Kostüm auf dem regennassen Rasen des Trainingszentrums von Coverciano.

Halb Italien hatte sich über das Outfit der ersten Sportministerin in der Geschichte der Republik amüsiert: Sandalen auf dem Fußballplatz, was kann man von einer Frau auch anderes erwarten! 2006 war das, der Fußball wurde von einem gigantischen Schiedsrichter-Manipulationsskandal erschüttert, in dessen Folge Juventus Turin in die zweite Liga relegiert wurde. Juve bildete das Gerüst der Squadra Azzurra, Nationaltrainer Marcello Lippi war zuvor lange Coach in Turin gewesen. Melandri reiste nach Coverciano, um die Nationalmannschaft demonstrativ zu unterstützen: Skandal hin oder her, das Land und die Regierung stehen hinter euch, wenn auch auf Sandalen.

Den nächsten Auftritt hatte Melandri dann im Olympiastadion von Berlin. Sie trug feste Schuhe und eine Trikolore-Fahne um den Hals und die Azzurri wurden Weltmeister. "Signora Merkel", sagt Melandri maliziös, "war nicht zufrieden." Silvio Berlusconi auch nicht wirklich, denn als Italien erstmals seit 1982 den Worldcup schwenkte, befand er sich in der Opposition und zu den Siegesfeiern reisten der ex-kommunistische Staatspräsident Giorgio Napolitano und die schöne Galionsfigur der Linken: Giovanna Melandri.

Nach 20 Jahren im Parlament ist die studierte Ökonomin Melandri, 52, heute Präsidentin des Nationalmuseums für die Kunst des 21. Jahrhunderts (MaXXI) in Rom. Staatsoberhaupt Napolitano absolviert die zweite Amtszeit, im Land und in der Hauptstadt regiert wieder Melandris Partei. Der linke Partito Democratico hat sich bei den Europawahlen als stärkste sozialdemokratische Kraft des Kontinents entpuppt: Aufbruchzeiten. Und die Azzurri sind mit ihrem Trainer Cesare Prandelli, Sozialdemokrat auch er, auf dem Weg nach Brasilien. In Coverciano ist diesmal kein Sportminister gewesen. Italien hat nämlich gerade keinen. Premier Matteo Renzi hat das Ressort, das zuletzt die glücklose Deutsch-Italienerin Josefa Idem besetzte, kurzerhand gestrichen.

Giovanna Melandri hat sich auf die Kunst konzentriert, Kulturministerin ist sie auch schon gewesen. Zwischen Sport und Kultur bewegte sich ihre politische Karriere ,"mein Schicksal", lacht sie. Einen Spagat habe sie dafür nie machen müssen, schließlich ruhe auf den beiden Säulen des Breitensports und des gigantischen Kulturerbes die Volksbildung. Umso überraschender, dass sie nun in bestimmtem Ton erklärt, der professionelle Fußball habe damit gar nichts zu tun.

"Fußball und Kultur, das sind zwei Welten", sagt Melandri, es sei beispielsweise völlig übertrieben, Fußballer als Künstler zu bezeichnen, "das Spiel der Mannschaft kann schön sein, es kann eine gewisse Ästhetik haben, aber es ist doch keine Kunst." Insofern ist der Tiber, der zwischen dem Nationalmuseum und dem Olympiastadion fließt, eine Art natürliche Grenze, das Publikum des Museums, so Melandri vorsichtig, sei nicht eben zwingend deckungsgleich mit den Zuschauern im Stadion. Es klingt, als sei sie darüber nicht besonders unglücklich. Giovanna Melandri, die Sandalenträgerin von Coverciano, ist auf der richtigen Tiberseite angekommen. Dort, wo man nicht glaubt, dass die zweitausendjährige Tradition des Sportspektakels in Rom irgendetwas mit Kultur zu tun haben muss. Und schon gar nicht mit zeitgenössischer Kunst.

Die Museumschefin windet sich, für einen Moment droht die professionelle Freundlichkeit in ihrem braun gebrannten Gesicht zu erstarren. Warum, um Gottes willen, muss man jetzt unbedingt über Fußball sprechen? Weltmeisterschaft hin oder her, man möge sie doch bitte nicht in diese Ecke drängen. Das MaXXI sei ja durchaus offen für den Sport, man habe Sonderaktionen zum letzten, internationalen Tennisturnier gehabt und für die römischen Radfahrer, außerdem gebe es jeden Samstag Yoga-Kurse. Aber Fußball?

Immerhin, im obersten Stock des riesigen, immer seltsam leer wirkenden Museums, einem grauen Betonbau der Londoner Star-Architektin Zaha Hadid, ist gerade ein Video des Künstlers Yuri Ancarani aus Ravenna zu sehen, es heißt "San Siro" und dreht sich um das Meazza-Stadion. Ancarani zeigt die Mailänder Fußballoper als kalte Spektakel-Fabrik, in der gesichtslose Arbeitsbienen hinter der Kulisse ebenso Teil eines industriellen Ablaufs sind wie jene Tifosi, die auf Treppen wie von M.C. Escher gezeichnet ameisengleich zu ihren Plätzen strömen - es scheint, als gingen auch sie zur Arbeit und nicht zu ihrem Vergnügen. Schließlich erscheinen die Spieler, man sieht sie im von der Polizei eskortierten Mannschaftsbus, in ihren Klubanzügen wirken sie wie Vorstandsmitglieder auf dem Weg zur Sitzung. "Ein düsteres Werk, durchaus verstörend", sagt Giovanna Melandri, "es zeigt uns, wie frenetisch es in unseren Stadien zugeht, ohne jede Leichtigkeit." Übrigens sei es nicht anlässlich der Weltmeisterschaft zu sehen, sondern im Wettbewerb um den MaXXI-Preis für junge Künstler.

Fanal des kollektiven Wahnsinns

Ganz am Ende des Abspanns dankt der Künstler Ancarani Barbara Berlusconi für ihre Unterstützung, der Tochter von Silvio Berlusconi und Managerin des AC Mailand. Wäre Italien eigentlich ein anderes Land, wenn seine Wirtschaftsbosse in Kunst investiert hätten anstatt in Fußball? "So wäre es wohl", sagt Giovanna Melandri, aber mit Kunst und Kultur könne man eben keinen Profit machen, "wie mit dem Fußball, direkt oder indirekt".

In Wirklichkeit haben etwa die Agnellis, mit dem Autokonzern Fiat noch immer Italiens größter Arbeitgeber, nicht nur in Juventus Turin investiert, sondern auch in eine bemerkenswerte Kunstsammlung. Und der Luxusunternehmer Diego Della Valle steckt sein Geld nicht nur in den AC Florenz, sondern auch in die Restaurierung des Kolosseums. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sowohl die Fiat-Leute als auch Della Valle den neuen Premier Matteo Renzi unterstützen, sie schwimmen mit auf der Welle, die den Berlusconismus gerade aus dem Land hinaustreibt.

Sicher, Renzi war einst als Schiedsrichter auf den Fußballplätzen der Toskana unterwegs und ist bis heute hingebungsvoller Fan der Fiorentina - auch Melandri gesteht, etwas verschämt, sie habe "natürlich eine Mannschaft meines Herzens", welche, sagt sie nicht. Wo Berlusconi den Fußball als Konsens- und Wählerstimmen-Maschine nutzte und seinen Wahlverein gerade wieder in Forza Italia umtaufte, den alten Anfeuerungsruf der Tifosi, geht die Linke indes demonstrativ auf Distanz. Ganz so, als gehöre der Fußball dem alten Berlusconi-Italien, das es jetzt zu überwinden gilt, als bestehe Italiens Calcio nur noch aus maroden Stadien, gewaltbereiten Ultras, Wettmanipulationen und schmierigen Geschäften. Renzis Vorgänger Mario Monti rümpfte über diese Schmuddel-Welt derart angeekelt die Nase, dass er als Ministerpräsident allen Ernstes vorschlug, den Profi-Spielbetrieb für ein Jahr auszusetzen, auf dass sich der Fußball mal gründlich regeneriere.

Plötzlich ist dieser Teil der italienischen Volkskultur für die Politik unpopulär geworden und für die kulturelle Elite uninteressant. Vorbei die Zeit, da Pier Paolo Pasolini den Fußball zur Kunst erhob, in der Poeten gegen Prosaiker antraten in einem Spiel, das, so Pasolini, seine eigene Zeichensprache kannte. Die von PPP gegründete "Nationalmannschaft der Künstler" existiert zwar noch, aber sie heißt jetzt "Nationalmannschaft der Fernsehkünstler". Und die Kunst hat sich vom Fußball abgewandt, nachdem er zum Spielball des Berlusconismus' geworden war. Auch Giovanna Melandri hat als Ministerin ihre Erfahrung mit Berlusconis Fußball-System machen müssen, als sie auf eine gerechtere Verteilung der Fernseh-Übertragungsgelder pochte, an denen bis heute die großen Klubs exorbitant viel und die kleinen abschreckend wenig verdienen "Die wichtigsten Klubs mochten mich nicht besonders", sagt sie rückblickend, ein schöner Euphemismus.

Der Fußball wie ihn der Video-Künstler Ancarani zeige, sei ein Fanal kollektiven Wahnsinns, sagt Giovanna Melandri. Und nur als solcher wird er dann wohl zum Thema für die Kunst, landet als ein weiterer, symbolischer Mosaikstein für die Selbst-Entfremdung des Menschen in jenen Museen, die genau diese Entfremdung in jedem Winkel, jedem Exponat thematisieren. Das MaXXI von Zaha Hadid macht da keine Ausnahme, der markentypisch wie eine große Schlange gestaltete, ansonsten schmucklose Bau hebt sich gewollt ab von den ockerfarbenen Häusern der Nachbarschaft, dem versöhnlich milchigen Licht des römischen Junihimmels, den Pinien und Oleandern. Hadid hat in Rom gebaut, wie sie überall baut, egal ob es eine Uni in Wien ist, eine Skisprungschanze in Innsbruck oder ein Museum in Taiwan. Kunst und Architektur sind globale Angelegenheiten und Hadid ist eine Weltmarke.

Der italienische Fußball muss das alles erst wieder werden. Obwohl die Nationalmannschaft ja quasi über dem Calcio schwebe, wie Giovanna Melandri glaubt. "Sie ist da außen vor. Super-außen-vor." Die Nationalmannschaft sei wichtig für Italien, sagt die Museums-Präsidentin, denn die Azzurri einten ja Italien: "Wenn sie spielt, ist das ein Moment kollektiver Identifikation und das ist richtig so. Die Nationalmannschaft ist wie unsere Fahne, wie die Nationalhymne, wie die staatlichen Institutionen unserer Republik: Darüber diskutiert man nicht."

Wenn also Buffon und Pirlo, Balotelli und Cassano und der Neuzugang von Borussia Dortmund Immobile in Brasilien ihr erstes Spiel gegen England bestreiten, dann steht hinter ihnen ein ganzes Land. Ultras und Bildungsbürger, Berlusconianer und Neu-Kommunisten, Nord- und Süditaliener, Arbeitslose und Wirtschaftsbosse. Fußball bleibt Fußball, aber die Squadra Azzurra soll mehr sein: Der Kitt, der das Land zusammenhält, die Heimat von Raffael und Leonardo, Michelangelo und Caravaggio, Burri und Fontana, Boetti und Pistoletto, Cattelan und Ancarani.

Große Kunst.

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