Fußball-EM:Italien muss besonders italienisch spielen

Italy v Republic of Ireland - Group E: UEFA Euro 2016

Wenn Italien wie Italien spielt: Andrea Barzagli (l.), Leonardo Bonucci (mittig) und Thiago Motta (r.) teilen sich im letzten Gruppenspiel die Betreuung von Irlands Daryl Murphy.

(Foto: Clive Rose/Getty Images)

Die Abwehr steht wie ein Fels, doch im Angriff mangelt es eklatant an Fantasie. Vor dem Spiel gegen den großen Angstgegner Spanier sammeln die Italiener Glückskäfer.

Von Birgit Schönau

Neulich, beim Aufwärmtraining vor dem Vorrundenspiel gegen Schweden: Andrea Barzagli bleibt plötzlich stehen, bückt sich, streckt die rechte Hand aus und fingert vorsichtig durch den Rasen. Bis er gefunden hat, was er sucht. Vorsichtig hebt er es auf seinen Zeigefinger, und dann winkt Barzagli ein Mitglied des Trainerstabs heran. Der kommt, übernimmt den Marienkäfer von Barzaglis Hand und trägt das Insekt aus der Gefahrenzone.

Die Azzurri haben ein Herz für kleine Tiere! Aber wenn man in dieser Verfassung ist, muss man jeden Glücksbringer hegen und pflegen. Das Match gegen Schweden endete 1:0. Italien qualifizierte sich vorzeitig als Gruppenerster für das Achtelfinale und konnte es sich sogar leisten, gegen Irland 0:1 zu verlieren. Jetzt wartet Spanien. La bestia nera, das Schreckgespenst. Spanien ist für die Italiener das, was die Italiener für Deutschland sind. Marienkäfer, flieg!

Chiellini: "In Paris wird es ein ausgewogenes Spiel"

"An den Spaniern kommen wir seit der EM 2008 nicht vorbei", sinniert in Montpellier Giorgio Chiellini, Barzaglis Abwehrkollege in der Squadra Azzurra und bei Juventus Turin. Damals gewann La Roja das Elfmeterschießen im Viertelfinale. 2012 folgte dann die 0:4-Klatsche im Finale. Chiellini, 31, und Torwart-Kapitän Gianluigi Buffon, 38, waren jeweils dabei, auch Daniele De Rossi, 32, spielt am Montag zum dritten Mal bei einer EM gegen Spanien. Aller guten Dinge sind drei, heißt es in Deutschland. In Italien: Non c' è due senza tre, nach zwei Mal folgt unabwendbar das dritte.

Vermutlich sammeln die Azzurri seit Tagen fleißig Marienkäfer, die vor dem Spiel mit einer besonders schmackhaften Art französischer Gourmet-Blattläuse gemästet werden. "Ihr kennt ja Antonio Conte", sagt Chiellini. "Bei dem muss man immer ackern und schwitzen." Also wird wohl jeder Grashalm nach Käfern abgesucht, auf dass sich das Versprechen des braven Chiellini erfülle: "In Paris wird es ein ausgewogenes Spiel geben. Wir waren ja vorher keine Phänomene und sind jetzt keine Pfeifen." Lobpreisungen nach dem furiosen Auftakt gegen Belgien, Schmähungen nach dem Patzer gegen Irland - alles Makulatur. Jetzt geht es ums Ganze.

Wie hatte Spaniens Gerard Piqué gesagt: "Italien spielt diesmal sehr wie Italien, und das könnte gefährlich werden." Und wenn Italien wie Italien spielt, dann ist das vor allem das Werk der Abwehr-Dreieinigkeit Barzagli, Leonardo Bonucci und Chiellini, kernig unterstützt von De Rossi und abgesichert von Buffon. Der Torwart war, wie De Rossi und Chiellini, gegen Irland nicht eingesetzt worden. Womit bewiesen wäre, dass für Antonio Conte doch nicht jedes Spiel gleich ist, auch wenn Chiellini behauptet: "Malta nimmt er genauso ernst wie Spanien." Soviel offensives Understatement gibt es auch verbal, wenn Italien wie Italien spielt.

Ancelotti vergleicht Álvaro Morata mit Robert Lewandowski

Alles andere sei ja auch vollkommen abwegig, gibt Carlo Ancelotti zu bedenken, der demnächst ja die Bayern wie die Bayern spielen lassen soll. "Das Spiel gegen Spanien wird sehr hart sein", schrieb Ancelotti in seiner Kolumne für den Londoner Daily Telegraph, aber das gelte durchaus für beide Gegner: "Es wird auch für Spanien hart. Italien wird versuchen, sich zurückzuziehen und die Räume zu schließen." Das ist keine besonders originelle Prognose, aber wer kann es sich angesichts von Andrés Iniesta und David Silva schon leisten, originell zu sein?

Und dann wäre da ja noch Álvaro Morata, laut Ancelotti "gefährlich wie Lewandowski." Morata zieht von Juventus Turin zurück zu Real Madrid. Im Achtelfinale treffen die Juve-Männer also erstmals als Ex-Kollegen auf ihn. "Er ist ein so besonderer Junge", lobt ihn Chiellini. "Bei Juventus ist er wirklich gewachsen, als Techniker, als Taktiker und vor allem als Mensch. Es würde mir sehr Leid tun, wenn er bei Real Madrid nur als Spekulationsobjekt behandelt würde." Kleine Sticheleien erhalten die Freundschaft.

Die Italiener sind es gewöhnt, mit ihrer Nationalelf zu leiden

Dass vor dem Spiel alle Augen auf die italienische Abwehr gerichtet sind, ist jedenfalls kein taktischer Bluff des gewieften Conte. Das Problem der Azzurri ist: Weiter vorn wird's wirklich dünn. Im Mittelfeld fehlt ein Regisseur wie Andrea Pirlo, die Notlösung Thiago Motta hat sich hinlänglich als Notlösung bewiesen. Im Sturm werden Spieler eingesetzt, die vor dieser Europameisterschaft perfekte Unbekannte waren und nach diesem Turnier angesichts ihres fortgeschrittenen Alters auch keine große Zukunft haben werden.

Mal schießt ein gewisser Graziano Pellè vom FC Southampton ein Tor, mal ein gewisser Éder von Inter Mailand. Jeder muss ran, wer trifft ist sowieso Zufall. Wie sehr Italien ein spielsicherer, fantasiebegabter Torjäger fehlt, wurde spätestens in der Partie gegen Irland deutlich, als die Reserve der Offensiv-Reserve ihre Chancen nicht nutzen konnte. Da kann sich Antonio Conte noch so obsessiv vorbereiten und seinem Team beim Training Höchstleistungen abverlangen, ohne Tore ist kein Weiterkommen drin.

Selten hat man eine Squadra Azzurra gesehen, die sich so sehr auf die Routine ihrer Abwehr verlassen muss, um einen derart eklatanten Mangel an Fantasie und Spielfreude auszugleichen. Zu Hause sollten sich alle ein blaues Trikot anziehen, um die Mannschaft zu unterstützen, forderte der markige Conte kürzlich, und überraschend viele kamen dem Aufruf nach. Die Italiener sind es gewöhnt, mit ihrer Nationalelf von Spiel zu Spiel zu leiden.

Wenn man als unterlegener Außenseiter startet, um dann mit List und Strategie den Favoriten zu schlagen, ist es doch am Ende noch viel schöner! Kein Paradies ohne Fegefeuer, Italien wird wie Italien spielen. Und vor dem Anpfiff in Paris wird sich eine Wolke von Marienkäfern in die Luft erheben. Die natürlich niemand sehen wird. Am wenigsten das alte Schreckgespenst Spanien.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: