Island vor dem Viertelfinale:"Es macht Spaß, Cinderella zu sein"

EURO 2016 - Round of 16 England vs Iceland

Auch eine Cinderella: Aron Gunnarsson.

(Foto: dpa)

Island im Fußball-Fieber, das steckt auch die Zeitungen an. Eine Presseschau von der Insel - kurz vor dem Viertelfinale gegen Frankreich.

Von Silke Bigalke

Wie kommt man am schnellsten von Reykjavik nach Paris? In Island war das die wichtigste Frage der vergangenen Tage. Ein ganzes Volk scheint auf dem Weg in die französische Hauptstadt zu sein. Dort wird am Sonntag isländische Fußballgeschichte geschrieben - egal, wer gewinnt. Island spielt im Viertelfinale gegen Gastgeber Frankreich.

Am Montag haben sie England geschlagen. Noch während des Spiels und sofort danach hätten 71.000 Isländer im Internet nach Flügen gesucht, berichtet das Reiseportal Dohop. Das ist mehr als jeder fünfte Isländer. Allein am Samstag gingen 14 Direktflüge von Keflavik nach Paris. Wem die Tickets zu teuer waren, dem empfahl die größte isländische Tageszeitung Fréttablaðið Umwege über Brüssel, London, Berlin, Amsterdam. Ein Zug von Berlin nach Paris koste nur 11.000 isländische Kronen (etwa 80 Euro) war dort zu lesen, er brauche 14 Stunden. Der schnellere Zug koste mehr. "Aber hey, man spart fünf Stunden, wir wissen ja, Zeit ist Geld." Und viel Zeit ist nicht mehr.

Neue Biersorte, benannt nach dem Nationaltrainer

Für die Daheimgebliebenen kratzen die Medien jede Fußball-Meldung zusammen, die sie finden können, auch die des WOW-Air Piloten Vignir Örn Guðnason, der den Sieg gegen England an seinen Cockpit-Instrumenten abgelesen haben will. Oder die über eine neue isländische Biermarke, benannt nach Nationaltrainer und Halbzeit-Zahnarzt Heimir Hallgrímsson. Dessen Konterfei schmückt jetzt die Flaschen.

Die Europameisterschaft als gesamtisländisches Projekt. Das kleine Volk hat sich daran gewöhnt, international Schlagzeilen zu machen, meistens waren es schlechte. Erst im April stand Island im Mittelpunkt der weltweiten Enthüllungen durch die Panama Papers, drei Minister inklusive des Regierungschefs waren verwickelt. Der Premier trat zurück. 2010 legte ein isländischer Vulkan den europäischen Flugverkehr tagelang lahm. Der Eyjafjallajökull ist bis heute häufigstes Motiv auf Tassen, Shirts und anderem Touristen-Nippes. Nun spekulieren isländische Medien, ob der Fußballerfolg Island am Ende mehr Aufmerksamkeit einbringen könnte, als dieser unaussprechliche Vulkan.

Schon jetzt ist ganz Island seinen Fußballer dankbar: "Wie auch immer es am Sonntag ausgeht, unser Team hat sich bereits viel besser geschlagen als jeder hoffen konnte, und ist der große Stolz unserer Nation und unseres Landes", schreibt die Tageszeitung Morgunblaðið: "Das Nationalteam von Island ist noch nie so weit gekommen bei der Europameisterschaft wie schon jetzt in Frankreich, und wir haben heute Grund, seinen großen Erfolg zu feiern."

Die Zeitung hat mit einem von Islands bekanntesten Psychiatern, Óttar Guðmundsson, darüber gesprochen, was der Erfolg für das Land bedeutet. Er mache die gesamte isländische Gesellschaft glücklicher, sympathischer und solidarischer, so der Experte. "Das ist neu in Island, aber sehr gut für das Nationalgefühl", sagte er über den Fußballerfolg: "Ich denke, dass der Effekt eine lange Zeit weiterleben wird, weil Fußball einfach so ist." Die Dänen sprächen schließlich auch immer noch von 1992, als sie Europameister wurden, und die Griechen von 2004: "Wenn eine kleine Nation ankommt und es bis zum Ende schafft, dann ist es wie ein Cinderella-Märchen, und es macht Spaß, Cinderella zu sein."

Das ganze Land ist infiziert

Das Märchen wirkt bis in den letzten Winkel der Insel, die mehr als doppelt so groß ist wie Dänemark, aber viel dünner besiedelt. Überall gibt es kleine, lokale Medien, die manchmal nur wöchentlich oder monatlich erscheinen. Bæjarins besta, eine kleine Wochenzeitung von den Westfjorden, "sendet beste Wünsche zum Nationalteam, das uns in den vergangenen Wochen viel Spaß gemacht hat. Die unwahrscheinlichsten Leute kleben nun den TV-Schirmen und feiern wild, wenn der Ball das gegnerische Netz trifft, oder wenn unser Hannes den Ball vor dem Tor mit unglaublicher Sicherheit fängt", schreibt die Zeitung: "Genial diese Jungs."

Von einer "Fußball-Explosion" schreibt Fréttablaðið, weil plötzlich alle isländischen Kinder überall im Land Fußball spielen wollen. "Die junge Generation sieht, dass es egal ist, wenn man aus einem kleinen Land kommt", zitiert die Zeitung Islands Sportminister Illugi Gunnarsson: "Wenn man hart genug arbeitet und es genug will, dann kann man unglaubliche Dinge tun."

"Schlimmste Woche Englands seit dem Zweiten Weltkrieg"

Der Chefredakteur von Kjarninn, einer Online-Zeitung, die als eines der unabhängigsten Medien in Island gilt und sich normalerweise nicht mit Sport befasst, wettet auf einen isländischen Sieg gegen Frankreich, gegen Deutschland und gegen Portugal. "Ein überzeugender und fairer Sieg des isländischen Teams hat die schlimmste Woche Englands seit dem Zweiten Weltkrieg besiegelt", kommentierte Thordur Snær Júlíusson nach dem Achtelfinale: "Eine Woche, die damit begann, dass Populisten das Land aus der EU herausgelogen haben und hinein in eine ökonomische und politische Krise, und damit endete, dass isländische Barbaren, die von der ganzen Welt geliebt werden, das überbezahlt englische Nationalteam demütigte." Islands Erfolg hat nicht nur für auch eine politische Dimension.

Niemand wundert sich in Island übrigens darüber, dass der Trainer der isländischen Mannschaft und Islands Lieblings-Schwede Lars Lagerbäck etwa zwei Dutzend Stimmen bei der isländischen Präsidentenwahl erhielt, obwohl er natürlich nicht zur Wahl stand. Die fand nur zwei Tage vor dem Spiel gegen England statt. So kam es, dass gleich zwei isländische Präsidenten dem Team in Nizza zuschauten, der Amtsinhaber und sein Nachfolger.

Es gibt ein Video von Islands Noch-First-Lady Dorrit Mousaieff, auf dem sie nach dem Spiel wild hüpfend über den Rasen tanzt, den Sieg feiert. Die neue Präsidentenfamilie gibt sich zurückhaltender: Gudni Johannesson, der das Amt im August übernimmt, will sich das Spiel am Sonntag nicht einmal aus der VIP-Loge ansehen. "Warum sollte ich in den VIP-Raum gehen und Champagner nippen, wenn ich das überall in der Welt machen kann?", sagte er CNN. Er werde in die Fanreihen zusehen, sein Island-Trikot tragen. "Und mit allem Respekt für das französische Team", sagte er, "es sollte uns nicht unterschätzen."

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