Island:Hymnen und Häme

Island feiert sein herzhaftes EM-Debüt beim 1:1 gegen Portugal - und zeigt Verständnis für einen mit Häme bedachten Star.

Von Ulrich Hartmann, Saint-Etienne

Wenn Cristiano Ronaldo seinen Arbeitsplatz in vollständiger Dienstkleidung verlässt, dann ist irgendetwas schiefgelaufen. Gewinnt der portugiesische Fußballstar ein wichtiges Spiel oder schießt gar das siegbringende Tor wie neulich im Finale der Champions League für Real Madrid, dann entledigt er sich ja gern seines Oberhemdes, spannt alle Muskeln an und zeigt dem Publikum werbewirksam seinen sehnigen Körper. Er sieht dann aus, als könnte er nach der Sportkarriere als Exponat in der Anatomie-Ausstellung "Körperwelten" weiterexisitieren.

Am Dienstagabend hat Ronaldo der Welt den Blick auf seinen astralen Oberkörper verweigert, er ist mit hängendem Kopf in die Stadionkatakomben geschlichen. Als er gerade den Rasen verließ, stand an der Balustrade direkt über dem Eingang zum Spielertunnel - der Trainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft.

Dagur Sigurdsson ist Isländer und hat in Saint-Etienne zugesehen, wie die Fußballmannschaft seiner Heimat ihr allererstes Europameisterschafts-Spiel bestritt - und wie sie technisch überlegenen Portugiesen ein ebenso überraschendes wie verdientes 1:1-Unentschieden abtrotzte.

Als das Spiel vorbei war, filmte Sigurdsson sich selbst. Und er nahm auf, wie im Hintergrund Ronaldo, der beste, eitelste und umstrittenste portugiesische Fußballer, enttäuscht den Platz verließ. Sigurdsson zeigte ein schadenfrohes Grinsen und ließ spottend den Unterkiefer auf und ab wippen. Das Video stellte er ins Netz. Dass es dort über Nacht zu einem Hit wurde, verrät einiges darüber, wie groß in der Fußballbranche die Sympathien für die kleinen Isländer sind - und wie groß zugleich die Häme darüber, dass der mitunter überheblich aufspielende Star von Real Madrid einen Denkzettel bekommen hat. "Ja, das war ziemlich frustrierend", sagte Ronaldo, als er mit riesigen goldenen Kopfhörern um den Hals die Kabine verließ.

Island: Der portugiesische Pfau, Cristiano Ronaldo (links), jammert nach dem Unentschieden, die tapferen Außenseiter aus Island feiern das Resultat.

Der portugiesische Pfau, Cristiano Ronaldo (links), jammert nach dem Unentschieden, die tapferen Außenseiter aus Island feiern das Resultat.

(Foto: Pavel Golovkin/AP)

Während er sprach, wiegte er immer wieder den Kopf hin und her wie ein Boxer, der in der Rundenpause Verspannungen löst. Ronaldo konnte im ersten Spiel dieser EM keinen Treffer landen. "Sie feiern als wären sie Europameister geworden", spottete er stattdessen über die seligen Kontrahenten und verstand einfach nicht, dass die Isländer sich tatsächlich genau so fühlten.

Nie zuvor hat eine isländische Fußballmannschaft an einer Europa- oder Weltmeisterschaft teilgenommen. So war bereits die Qualifikation mit zwei Siegen gegen die Niederländer, einem 3:0 gegen die Türkei oder dem 2:1 gegen Tschechien ein staatstragendes Ereignis: "Auf absolut diesem Niveau" sah Trainer Heimir Hallgrimsson nun auch das Remis gegen die Portugiesen. In der 50. Minute hatte Birkir Bjarnason vom FC Basel die portugiesische Führung durch Nani (31.) ausgeglichen. Danach verteidigten die Isländer das 1:1 mit heißem Herzen und kühlem Verstand.

"Unsere Abwehr war einfach fantastisch", schwelgte Hallgrimsson, der die Mannschaft zusammen mit dem Schweden Lars Lagerbäck betreut. Es ist das einzige Trainer-Tandem bei dieser EM, und das sagt einiges über die Stimmung im isländischen Team. Alle sind sich einig, dass sie in Frankreich nur gemeinsam etwas erreichen können. "Auch Ronaldo zu stoppen, war Teamwork", sagte Hallgrimsson, "das schafft einer alleine nicht, das war gute Arbeit von der ganzen Mannschaft."

Die 23 Isländer, die nicht mal in der Summe aller Spieler den Marktwert des auf mehr als 100 Millionen Euro taxierten Ronaldo erreichen, kompensierten ihre bisweilen defizitäre Technik durch taktische Disziplin und leidenschaftlichen Einsatz. Während Ronaldo hinterher beleidigt klagte, Islands Verteidigungshaltung zeuge "von geringer Mentalität", und diese Mannschaft werde "nichts erreichen", jubelte die heimische Presse ihre Fußballer in den Himmel: Diese "Helden" (Frettabladid) seien "unglaublich" (Dagbladid), und das Unentschieden gegen Portugal die vorläufige "Krönung" (Morgunbladid).

Nun wissen die Fußballer von der Vulkaninsel, die alle in ausländischen Klubs spielen, dass sie aus den beiden verbleibenden Gruppenspielen gegen Ungarn an diesem Samstag und Österreich am darauffolgenden Mittwoch nur noch einen Sieg benötigen, um ziemlich sicher das Achtelfinale dieser EM zu erreichen. Erste EM-Teilnahme, erstes EM-Tor, erster EM-Punkt - und realistische Aussichten auf die K.-o.-Runde - "für uns passieren zurzeit ziemlich viele Sachen zum ersten Mal", sagte Hallgrimsson und deutete an, welch überwältigendes Erlebnis dieser Frankreich-Aufenthalt für alle Spieler und auch für ihn als Coach ist.

Ronaldos Verbalattacken beantworteten die Isländer am Mittwoch voller Verständnis: "Er war halt enttäuscht", sagte Lagerbäck, "wenn man unglücklich ist, sagt man solche Sachen." Der Trainer zeigte sich sehr souverän. Er ist nämlich gerade ziemlich glücklich.

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