Island:Die Insel ist leer

EURO 2016 - Iceland training

Endlich schluss mit Training, am Dienstag wird's ernst: der isländische Stürmer Alfred Finnbogason.

(Foto: Cj Gunther/dpa)

Der Europameisterschafts-Neuling wird bei seiner ersten Teilnahme von beispielloser Euphorie im eigenen Land getragen.

Von Sebastian Fischer

Die Zuschauer schreien vor Freude laut auf und spenden stehend Beifall. Hinter dem Tor hüpft ein Balljunge immer wieder in die Luft, so zeigen es die Fernsehbilder. Und die Stimme des Kommentators überschlägt sich. Euphorie, das ist in den Tagen einer Europameisterschaft eine überstrapazierte Vokabel, gerade wenn von den kleineren Nationen die Rede ist, die in Frankreich erstmals bei einem großen Turnier dabei sind. Doch wie soll man die Stimmung in Island sonst beschreiben? Die Zuschauer schrien, der Balljunge hüpfte, der Kommentator konnte nicht mehr - als Eidur Gudjohnsen im Stadion von Reykjavik in der vergangenen Woche das 4:0 für die isländische Nationalmannschaft erzielte. In einem Testspiel. Gegen Liechtenstein.

Wenn Island an diesem Dienstag (21 Uhr/ZDF) zum ersten EM-Spiel in der Geschichte des Landes in St. Étienne gegen Portugal antritt, dann ist Island leer. So jedenfalls geht ein Witz, den sich die Menschen im Land seit Wochen erzählen. Mindestens 7000 Fans werden im Stadion erwartet, 10 000 sollen es beim dritten Gruppenspiel gegen Österreich in Paris sein. Bleiben also nur noch gut 320 000 übrig - und die werden wohl alle fernsehen.

Die Debatten kreisen um Gudjohnsens Erben im Sturm

Die Euphorie im Land mit der Einwohnerzahl Bielefelds ist durchaus begründet. Denn Island hat anders als etwa Gruppengegner Ungarn nicht vom aufgeblähten Turniermodus profitiert, sondern in der Qualifikation die Türkei und die Niederlande hinter sich gelassen. Wunderbare Geschichten charakterisieren die Mannschaft. Etwa die märchenhafte Biografie des Stürmers Gudjohnsen, der als 17-Jähriger als Einwechselspieler für seinen Vater im Nationalteam debütierte, in Chelsea und Barcelona spielte, unter Tränen seine Nationalmannschaftskarriere nach der dramatisch verpassten WM-Qualifikation 2013 beendete und nun, mit 37, doch noch einmal zurückgekehrt ist. Oder der Werdegang von Torhüter Hannes Thor Halldorsson, der eigentlich als Filmregisseur arbeitete, bis er bei der Mannschaft eines Freundes im Trainingslager aushalf. Assistenztrainer Heimir Hallgrimsson war bis vor kurzem noch praktizierender Zahnarzt.

Doch diese Geschichten täuschen darüber hinweg, dass Island zwar das kleinste Land ist, das jemals bei einer EM dabei war - als Fußballnation aber gar nicht mehr so klein ist, wie es zu sein scheint. Das Jahr 2011 markierte einen Wendepunkt. Damals qualifizierte sich erstmals eine U 21-Auswahl des Landes für eine EM und der Schwede Lars Lagerbäck übernahm die Nationalmannschaft. Die nach der Jahrtausend-Wende reformierte Nachwuchs-Ausbildung samt Investitionen in die Infrastruktur machte sich bezahlt, wo früher auf Kies trainiert werden musste, stehen jetzt Kunstrasenhallen, und wo früher Väter trainierten, arbeiten jetzt ausgebildete und lizenzierte Übungsleiter.

Und der gewiefte Taktiker Lagerbäck, 67, verpasste der Mannschaft eine stilbildende Spielweise: ein laufintensives, defensives 4-4-2. Assistent Hallgrimsson, der nach der EM die Mannschaft allein übernehmen wird, ergänzt Lagerbäcks Arbeit mit modernen Ansätzen bei der Spielvorbereitung. "Gutes Zusammenspiel, gute Organisation", so beschreibt Lagerbäck die Stärken der Mannschaft. Gudjohnsen, vor zehn Jahren noch der einzige Profi seines Landes von internationaler Klasse, ist inzwischen nur noch eine Ergänzung.

In den Tagen vor dem Spiel gegen Portugal wurde vor allem über seine Erben im Sturm diskutiert. Um zwei Positionen konkurrieren Kolbein Sigthorsson, 26, vom FC Nantes, der Augsburger Alfred Finnbogason, 27, und der Kaiserslauterer Jon Dadi Bödvarsson, 24. Im letzten Test gegen Liechtenstein trafen Sigthorsson und Finnbogason, sie spielten von Beginn an. Doch am lautesten jubelten die Isländer über Gudjohnsens Tor. Auch wenn er in Frankreich nur von der Bank kommen wird, bleibt er spiritueller Leader. Deshalb war es auch ihm vorbehalten, das EM-Ziel zu formulieren. "Wenn wir alles geben", sagt Gudjohnsen, "können wir stolz nach Hause fahren."

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