Island bei EM 2016:Eine Insel steht unter Schock

Goalkeeper Hannes Halldorsson of Iceland celebrates Iceland's victory over the Netherlands after their Euro 2016 qualifying soccer match in Amsterdam

Erst ein Sieg gegen die Niederlande, nun ein 0:0 gegen Kasachstand: Islands Torhüter Hannes Halldorsson ist bei der EM dabei.

(Foto: REUTERS)
  • Die isländische Fußball-Nationalmannschaft versetzt die kleine Vulkaninsel durch die geglückte EM-Qualifikation in Euphorie.
  • Die "Goldene Generation" der Isländer schlug einst jene deutschen Fußballer, die 2014 Weltmeister wurden.
  • Hier geht es zu allen Ergebnissen der EM-Qualifikation.

Von Ulrich Hartmann

Das schönste Spiel in der Geschichte des isländischen Fußballs fand am Sonntagabend statt. Es hat in Strömen geregnet, und Tore sind auch keine gefallen. Die Hauptstadt Reykjavik drohte fortgespült zu werden. Im Nationalstadion Laugardalsvöllur mit seinen alten, offenen Tribünen war es derart ungemütlich, dass 15 000 Zuschauer die ganze Zeit singen und hüpfen mussten, um sich warm zu halten.

In Wahrheit aber waren sie einfach nur begeistert vom verregneten Nullzunull gegen Kasachstan. Dieser eine und in trostlosester Weise gewonnene Punkt genügte den Isländern, um sich der Qualifikation zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich sicher zu sein. Erstmals wird das kleine Island an einem großen Fußballturnier teilnehmen. "Es ist unglaublich", sagte der Kapitän Aron Gunnarsson: "Ich stehe unter Schock."

Nur ein Bruchteil der Bevölkerung spielt Fußball

Auf Island, der größten Vulkaninsel der Erde, südöstlich von Grönland und knapp unterhalb des Polarkreises gelegen, spielte Fußball (isländisch: Knattspyrna) lange eine Nebenrolle. Inzwischen sind 20 000 der 330 000 Einwohner als aktive Spieler registriert beim Fußballverband "Knattspyrnusamband Islands", der erst 1947 gegründet wurde. Elfmal hatten Islands Fußballer bisher erfolglos versucht, zu einer Europameisterschaft zu gelangen.

Das höchste der Gefühle war vor der EM 2004 ein dritter Platz in der Qualifikationsgruppe. Und vor Weltmeisterschaften war es stets das Gleiche. Die Isländer spielten in jeder Qualifikation eher aussichtslos mit, bis sie vor zwei Jahren plötzlich in die WM-Playoffs gelangten. Zu Hause gab es gegen Kroatien ein 0:0, auswärts ein 0:2 - Island trauerte. Doch die knapp verpasste WM-Qualifikation hatte dem Land gezeigt, dass es vorangeht.

Der Schwede Lars Lagerbäck und der Isländer Heimir Hallgrimsson haben die Mannschaft Schritt für Schritt auf ein höheres Niveau geführt, seit sie im Herbst 2011 als Trainerduo angetreten sind. "Als Lars und ich hier anfingen, hat er mir gesagt, dass er das Team für stark genug hält, sich für die Weltmeisterschaft zu qualifizieren", erzählt Hallgrimsson: "Damals dachte ich, er ist verrückt, aber dann hätten wir es tatsächlich fast geschafft."

Dieses Erlebnis nahmen die Isländer mit in die EM-Qualifikation. Sie besiegten die Türkei 3:0 und die Niederlande 2:0, sie verloren in Tschechien 1:2, starteten danach aber eine Serie mit drei Siegen: 3:0 in Kasachstan, 2:1 gegen Tschechien und am Donnerstag 1:0 in den Niederlanden. Das sei "der größte Sieg in der Geschichte des isländischen Fußballs", sagte Hallgrimsson nach dem Triumph in Amsterdam.

Gefeiert wie Nelson Mandela und Martin Luther King

Er hatte Recht - das Nullzunull gegen Kasachstan war nur noch der letzte Schritt. Und schon wird Lagerbäck, 67, neun Jahre lang schwedischer Nationalcoach und danach mal kurz in Nigeria tätig, als isländischer Volksheld gefeiert. Ihm selbst ist das suspekt: "Menschen wie Mandela und Martin Luther King sind Helden", sagt er. "Ich bin doch nur ein Fußballtrainer."

Es liegt ja auch nicht nur an ihm. Island hat eine goldene Generation erwischt. Ein Drittel aus dem heutigen A-Kader hat sich 2011 für die U21-EM qualifiziert und auf dem Weg dorthin im Oktober 2010 zum Beispiel die deutsche U21 mit Spielern wie Mats Hummels, Benedikt Höwedes, Lars Bender oder Marcel Schmelzer bei einem 4:1-Sieg fast vorgeführt. "Seit wir 16 sind, stehen wir fast immer in derselben Formation auf dem Feld", sagt Rurik Gislason vom Zweitligisten 1. FC Nürnberg. "Bei uns kennt jeder seine Aufgaben." In der Weltrangliste hat sich Island inzwischen von Platz 112 auf Rang 23 katapultiert.

Die meisten Spieler sind Legionäre

Islands Talente entwickeln sich, seit vor einigen Jahren etliche Kunstrasenplätze und für die langen, kalten Winter überall auf der Insel gewaltige Fußballhallen gebaut wurden. Hallen, die die Helden von heute kaum mehr nutzen. Denn aus dem aktuellen 23er-Kader spielen nur noch zwei Fußballer in Island. Acht Profis sind in Skandinavien aktiv, zehn im übrigen Europa, drei in China. Top-Torschütze Gylfi Sigurdsson spielt im walisischen Swansea, Spielmacher Aron Gunnarsson im walisischen Cardiff. Sigurdsson, ein gefürchteter Experte für Standardsituationen, gab einst von 2010 bis 2012 ein durchwachsenes Bundesliga-Gastspiel bei der TSG Hoffenheim (36 Spiele, neun Tore).

Wenn nun am 12. Dezember in Paris die Gruppen für die EM-Endrunde ausgelost werden, sind isländische Repräsentanten dort auch Zeugen eines kleinen Kulturwandels. Zwar sagt Kapitän Gunnarsson: "Seit ich als kleiner Junge mit dem Fußballspielen angefangen habe, hätte ich nie zu träumen gewagt, dass dies jemals passiert" - aber eigentlich durfte er sich bislang nicht als Repräsentant eines isländischen Nationalsports fühlen.

Volkssport ist die Fischerei

Außer der Fischerei, natürlich auch der Sport-Fischerei, übten seine Landsleute bislang viel lieber unterm Hallendach. Als größter Mannschafts-Erfolg in Islands Sportgeschichte galt bisher vor allem der Einzug ins Handball-Finale bei Olympia 2008 in Peking. Dort gab es zwar eine 23:28-Niederlage gegen Frankreich, aber Silber blieb.

Dass es nun 2016 in Frankreich zu einer Final-Revanche in einer anderen Sportart kommen könnte, daran glauben nicht einmal die euphorisierten Isländer. Ihnen reicht zunächst das Erreichte. "Dass sich so ein kleines Land wie wir zwei Spieltage vor Schluss in einer Gruppe mit den Niederlanden, mit Tschechien und der Türkei für die EM qualifiziert", stellte Gylfi Sigurdsson klar, das sei "Wahnsinn".

SZ Espresso Newsletter

Auch per Mail bestens informiert: Diese und weitere relevante Nachrichten finden Sie - von SZ-Autoren kompakt zusammengefasst - morgens und abends im SZ Espresso-Newsletter. Hier bestellen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: